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Portugals Jugend schreit nach Freiheit

Bereits Mitte März protestierte Portugals Jugend, um ihren Unmut über die Politik des Landes auszudrücken. Zwar gingen Hunderttausende auf die Straße, im restlichen Europa wurde der Aufstand allerdings nur schwach wahrgenommen. Grund: Portugals Antrag auf finanzielle Hilfe und die Neuwahlen standen im Mittelpunkt öffentlicher Debatten. Die "Bewegung des 12. März" versucht jedoch alles, damit der Aufschrei der Gesellschaft nicht verpufft.

Von Tilo Wagner | 30.05.2011
    Der Rossio im Herzen der Lissabonner Altstadt ist in diesen Tagen nicht wiederzuerkennen. Unterhalb der Königsstatur in der Mitte des Platzes haben junge Portugiesen ein kleines Zeltlager errichtet. Es ist kurz vor 12. Sara Horma schreibt auf eine Tafel neben der improvisierten Küche, was die Gruppe für das Mittagessen noch an Zutaten braucht. Seit zehn Tagen schläft die 20-jährige Soziologiestudentin auf der Straße, um gegen die Missstände der portugiesischen Demokratie zu protestieren:

    "Die Parteien nehmen die Bedürfnisse der Menschen doch gar nicht mehr wahr. Denn sie gehen nicht auf die Straßen und haben auch keinen Kontakt zu den Menschen. Sie stehen über den Dingen und wissen deshalb nicht, wie man zum Beispiel die Armut bekämpfen muss. Das Parlament ist nur noch Schauplatz von Machtspielen. Und die Argumentationslinien der Parteien zielen nur auf Stimmenfang ab. Das Volk haben unsere Politiker vergessen."

    Wie ihre protestierenden Kollegen in Madrid fordern auch die Portugiesen auf dem Rossio-Platz mehr direkte Demokratie. Jeden Abend findet deshalb eine Versammlung mit 600 bis 800 meist jungen Menschen statt, die neue politische Ideen diskutieren. Die Großstadtcamper sind ein Teil einer neuen Bewegung junger Portugiesen, die ihrem Frust über hohe Arbeitslosigkeit, Finanzkrise und scheinbar weltfremde Politiker freien Lauf lassen. Begonnen hat der Weckruf der portugiesischen Jugend mit einem Lied, in dem die Folk-Pop-Gruppe Deolinda von der Perspektivlosigkeit einer ganzen Generation erzählt.

    Von dem Song ließen sich ein paar Studenten inspirieren, die über das Internet zum Protesttag am 12. März aufriefen. Über 300.000 Portugiesen gingen auf die Straße. Seitdem ist viel passiert in Portugal, das die Ambitionen der jungen Portugiesen hätte untergraben können. Doch weder die politische Krise noch die endlosen Diskussionen über den Hilfsantrag und die nötigen Sparmaßnahmen konnten den Aktionswillen der Bewegung ausbremsen. Für Marco Marques vom Protestverbund "Mayday Lisboa" hat die Arbeit gerade erst begonnen:

    "Rückblickend stellen wir fest: Der 12. März ist für die portugiesische Zivilgesellschaft von enormer Bedeutung gewesen. Hunderttausende Menschen auf der Straße sind sich bewusst geworden, dass sie mit ihrer Kritik nicht alleine dastehen. Das trifft nicht nur auf die jüngere, sondern auch auf die ältere Generation zu. Mittlerweile haben sich im ganzen Land informelle Foren gebildet, in denen neue politische Ideen und konkrete Vorschläge diskutiert werden."

    Mehrere Gruppen sammeln jetzt die notwendigen 35.000 Unterschriften, um zu Beginn der neuen Legislaturperiode einen Gesetzesentwurf im Parlament einzubringen, der die Situation von Portugiesen in befristeten und häufig schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen verbessern soll. Zudem fordert die Protestbewegung, dass portugiesische Steuerzahler nicht für die Schulden von Privatbanken einstehen sollten. Und dennoch ist weiter unklar, was aus der neuen portugiesischen Jugend-Protestbewegung langfristig wird. Der Historiker Fernando Rosas glaubt, dass die Bewegung bald entscheiden muss, ob sie außerhalb des politischen Systems bleibt oder sich integriert:

    "Es geht hier um politische Optionen. Normalerweise wird die politische Agenda von Parteien umgesetzt. Und wenn es keine Parteien gibt, die bestimmte Forderungen umsetzen, schafft die Gesellschaft neue politische Kräfte. Es führt jedoch in eine Sackgasse, wenn man die politischen Parteien an sich als Institution ablehnt. Aber das sind Erfahrungen, die die jetzige Bewegung selbst machen muss."

    Das Zeltlager auf dem Rossio-Platz soll noch bis zu den Neuwahlen am kommenden Sonntag bleiben. Und auch wenn Sara Horma und ihre jungen Mitdemonstranten die Spielregeln des modernen Portugals nicht sofort verändern können, bleibt die Erfahrung, dass die Idee einer direkten Demokratie zumindest für ein paar Tage im Herzen der Hauptstadt erlebbar geworden ist.

    Zur Sendereihe "Die verlorene Generation"