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Positionsbestimmung der russischen Avantgarde

Der Titel "Am Nullpunkt" in seiner Doppeldeutigkeit weist schon darauf hin: In diesem fast 800 Seiten dicken Sammelband mit Programmschriften, Manifesten und Polemiken der russischen Avantgarde dominiert eine neue Perspektive auf die gewaltige Kunstrevolution des 20. Jahrhunderts. Hier wird das gigantische Projekt der Moderne nämlich im Wesentlichen von seinem Ende her betrachtet.

Von Karla Hielscher. Am Mikrofon: Hermann Theißen |
    Insofern hat es durchaus seine Berechtigung, dass diese umfangreiche Textsammlung als Teil eines Forschungsprojekts "The Post Communist Condition" erarbeitet wurde. Lag doch die Besonderheit der russischen Avantgarde darin, dass der vorrevolutionären Avantgardekunst durch die Oktoberrevolution 1917 mit dem emphatisch erlebten Ziel des Aufbaus des Kommunismus für einige Jahre ganz einzigartige historische Bedingungen ihrer Entfaltung und Realisierung geboten waren. Das Ende des kommunistischen Gesellschaftsprojekts am Ausgang des 20. Jahrhunderts wird nämlich in der Entwicklung der Avantgarde von den 10er bis in die 30er Jahre längst vorweggenommen. So ist denn in dieser ausführlich und kenntnisreich kommentierten Dokumentensammlung eigentlich die gesamte Hybris der Denkgebäude des 20. Jahrhunderts in extremer Zuspitzung und Verdichtung zu besichtigen. Die Auswahl der Texte, bei denen solche bekannten Repräsentanten der Avantgarde wie Majakowskij, Eisenstein oder Meierhold fehlen, demonstriert den Weg hin zum Finale.

    Der erste Teil ist der stürmischen Aufbruchstimmung der Avantgarde vor und in den allerersten Jahren nach der Oktoberrevolution gewidmet, manifestiert für uns heute nicht mehr nachvollziehbare maßlose und anmaßende utopische Weltveränderungsprojekte. Das beginnt mit Berdjaevs Schrift "Die Krise der Kunst", in der der große Religionsphilosoph den Übergang vom Kunstschaffen zum "Schaffen des Lebens selbst", zum "Schaffen eines neuen Menschen", zur "Fortsetzung der Göttlichen Schöpfung" predigt. Damit wird deutlich, dass die Vorstellungen der radikalen Utopisten dieser ersten Phase religionsphilosophische Dimensionen, ja einen geistigen Totalitätsanspruch hatten. In den programmatischen Texten der Futuristen Chlebnikov und Krucenych mischen sich technische Allmachtfantasien und archaisch magische Konzepte, Weltraumutopien, Flugbegeisterung und megalomane Naturbeherrschungsvisionen vom "Sieg über die Sonne", wie der Titel der berühmten futuristischen Oper von 1913 lautet. Die alogische futuristische Zaum-Sprache, das "Wort als solches" gilt ihnen als neue lebendige Realität anstelle der toten alten. In seinen häufig wirren Manifesten beschwört Kasimir Malevic, der mit seinem suprematistischen schwarzen Quadrat den absoluten Nullpunkt und Neuanfang markiert hatte, den Übergang zum gegenstandslosen Schaffen. Damit proklamiert er in den ersten nachrevolutionären Jahren mit seiner Vitebsker Künstlergruppe den realen "Kampf um die Gestaltung eines neues Weltgebäudes".

    Der zweite Teil demonstriert die radikalsten Programmschriften der Konstruktivisten und Produktionskünstler, für die die neue Zeitrechnung mit der Oktoberrevolution beginnt. Hier erfolgt der Umschlag von der absoluten Ästhetisierung der Welt, der Kunst als Selbstzweck, zum Nullpunkt, zum Tod der Kunst als solcher. Ihr propagiertes Ziel ist es, die Kunst in der kommunistischen Neugestaltung der Welt, in der Produktion von Gebrauchsgegenständen aufgehen zu lassen; sie verstehen den Künstler als Ingenieur oder Konstrukteur, die Kunst als "Mittel, im Rahmen der Ziele des Klassenkampfs einen emotional-organisierenden Einfluss auf die Psyche auszuüben". Mit den aus der Produktionswelt entlehnten Begriffen Arbeit, Technik, Organisation, Montage dienen sie sich der Partei als die einzig wahre kommunistische Kunst an. Im Rückblick wird deutlich, dass diese Phase der Erneuerung von Foto, Plakat, Reklame, Textilgestaltung die Welt des modernen Design und der Werbung eingeleitet hat. Und was in Tarabukins Manifest "maximal starker Anschlag auf die Psyche des Betrachters" heißt, könnte man natürlich auch Manipulation des Konsumenten nennen.

    Im dritten Teil, der "Dekonstruktion des Konstruktivismus", gehen - z.B. in den Texten Andrej Platonovs - technische Science-Fiction-Utopien eine explosive Mischung mit archaischen, häretisch-sektiererischen Weltvorstellungen ein, die schon halbironisch subversiven Charakter haben. Z.B. seine kuriose Schrift über den Antisexus, in der die in der frühen Sowjetunion geführte Debatte um die Regulierung der Sexualität, die Beherrschung und totale Organisierung auch des Trieblebens thematisiert wird. Und Malevics Schriften seit Mitte der 20er Jahre, die die Befreiung von jedem Ökonomismus, die Überwindung der Erdenschwere und Materialität, ja die Befreiung aus den Kategorien von Zeit und Raum umkreisen, entfernen sich immer weiter von der Realität und implizieren damit eine radikale Kritik an der politischen Entwicklung der Sowjetunion.

    Die Texte der russischen Absurdisten, der Oberiuten ("Vereinigung Realer Kunst"), die im vierten Teil dokumentiert sind, demonstrieren dann das utopielose Ende, die Nullform der Avantgarde. Daniil Charms, der bei Malevics Beerdigung 1935 mit einem Gedicht auftrat, bezeugt in seinem Manifest "Null und Noll", mit dem kreisrunden zeichenhaften "O", die absurdistische Anfangs-, End- und Sinnlosigkeit, das "unsägliche Nichts". Die Motive der Panik, des Grauens, des Entsetzens, des Verschwindens, die bei den Oberiuten zentral sind, haben natürlich auch mit der politischen Wirklichkeit des Stalinismus zu tun, die den Tod der Avantgarde besiegelte. Konsequenterweise steht am Anfang des Buches das Vorwort von Boris Groys "Im Namen des Lebens" und an seinem Ende das Nachwort des Hauptherausgebers Aage Hansen-Löve, der in seinen Textkommentaren die Ergebnisse jahrzehntelanger Forschungen verarbeitet hat, "Im Namen des Todes."

    Karla Hielscher über "Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde". Der Band wird von Boris Groys und Aage Hansen-Löve herausgegeben und ist erschienen als "suhrkamp taschenbuch wissenschaft". 777 Seiten, 20 Euro.