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Postexperimentelle Gedichte im Quadrat

"dunkelziffer" nennt Elfriede Czurda ihren neuen Gedichtband. Dem Unzählbaren auf der Spur, unternimmt sie hier die subversive Dekonstruktion der globalen Herrschaft der Zahlen. Ausgangspunkt sind Symbole der Zahlenmagie wie magische Quadrate, das goldene Dreieck oder das Pentagramm.

Von Michaela Schmitz | 24.05.2011
    Zwischen Sein und Nichts steht die Zahl. Alles was ist, ist zählbar. Alles Zählbare lässt sich beziffern. Bis auf die Dunkelziffer. Sie ist die unbestimmbare Größe, die unbezifferbare Zahl. Sie bezeichnet den Fehler, der in der Wahrheit enthalten ist. Sie steht für die "différance" der Philosophie Jacques Derridas. Unter der ökonomischen Diktatur der Zahlen gibt es nichts Anarchischeres als diese unwägbare Differenz der Dunkelziffer.

    "dunkelziffer" nennt Elfriede Czurda ihren neuen Gedichtband. Dem Unzählbaren auf der Spur, unternimmt sie hier die subversive Dekonstruktion der globalen Herrschaft der Zahlen. Ausgangspunkt sind Symbole der Zahlenmagie wie magische Quadrate, das goldene Dreieck oder das Pentagramm. Diese stehen für die Zahl als Ur-Prinzip aller Dinge. Denn Zahlenmystiker wie die Pythagoreer glauben an ihre Allmacht. Die Zahl, so zitiert sie Aristoteles in seiner Metaphysik, sei "groß, allvollendet, allwirkend und himmlischen wie menschlichen Lebens Urgrund und Führerin, teilhabend an allem."

    Elfriede Czurda nimmt die Zahl beim Wort und transformiert sie in Sprache. Ergebnis sind postexperimentelle Gedichte, die die Vorgaben der Zahlen in der Anordnung der Wörter und Wortfolgen visuell umsetzen. Quadrat, Dreieck, Fünfeck oder eine Zahlenfolge werden mit Wörtern buchstäblich auf die Druckseite gezeichnet.

    Doch die Gleichung geht nicht auf. Poesie ist kein einfaches Rechenexempel. Die Harmonie der Zahlen wird deshalb in Czurdas Gedichten gleichsam "zerschrieben". Ihre Geometrie löst sich in immer neu wiederholten und variierten Wortfolgen schleichend auf. Bedeutungen werden durch Wiederholung und Variation bis zur Beliebigkeit verschoben, die Zahlengebäude durch poststrukturalistische Techniken des Schreibens und Wiederbeschreibens systematisch dekonstruiert. Palimpsest lautet das Motto – nicht zufällig ein Schlüsselwort im ersten Gedicht des Bandes. Er bezeichnet das antike oder mittelalterliche Verfahren, mit der eine beschriebene Manuskriptseite oder -rolle durch Schaben oder Waschen gereinigt und danach neu beschrieben wurde.

    Elfriede Czurdas poetisches Palimpsestieren beginnt gleich im ersten Zyklus ihres Gedichtbandes. Es ist eine Dekonstruktion des magischen Quadrats des Lo Shu, bei dem die Summe der horizontalen und der vertikalen Reihen sowie der Diagonalen jeweils 15 ergeben. Der Legende nach soll es Yü dem Großen auf dem Rücken einer Schildkröte aus dem Flusse Lo erschienen sein. Es wurde zur Wahrsagung und im Rahmen der Yin-Yang-Lehre zur Erklärung von Vorgängen im Inneren des Körpers verwendet. "Landschaften I" nennt Elfriede Czurda ihre poetischen Variationen über das Lo-Shu-Quadrat. In neun Gedichten bildet sie dessen Zahlenfolge in der exakten immergleichen Verszahl ab.

    Nachdem sie die vorgegebene Form in "Universallandschaft", "Erdlandschaft", "Stadtlandschaft" und "Körperlandschaft" mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt hat, beginnt sie, die Wortfelder in mehreren Varianten von "Gemischte Landschaft" und "Stadtlandschaft mit festem Zentrum" zu vermischen, zu verschieben und schleichend zu dekonstruieren.

    In der sukzessiven Lektüre beginnen sich die Schichten, nach und nach zu überlagern. Am Ende oszillieren sie zwischen sinnentleerten Wortkombinationen und wie zufällig daraus entstehenden poetischen Einsichten. Urheber dieser den Regeln der Zahl gehorchenden Automatenpoesie, so scheint es gelegentlich, ist nicht eine Autorin, sondern allein der Zufall. Der Zufall ist schließlich die große unkalkulierbare Dunkelziffer jedes Systems.

    Zyklus um Zyklus dekonstruiert Elfriede Czurda ein um das andere Symbol des durch die Jahrtausende unerschütterlich gebliebenen Glaubens an die Macht der Zahlen: das Ho-t'u-Diagramm, das pythagoreische und das pascalsche Dreieck, den goldenen Schnitt, das Pentagramm und Spiralstruktur, das Kryptogramm und die kybernetische Schleife. Was am Ende übrig bleibt, sind "Wirklich keine Quadrate", drei triptychonartig angeordnete statische Gedichtblöcke, in denen die poetische Dekonstruktion zur Ruhe gekommen zu sein scheint. Zum Abschluss setzt ein "Letztes wirkliches Quadrat" den vorläufigen Schlusspunkt und schließt den Kreis zum Anfang. Denn jeder Akt der Dekonstruktion ist letztlich nur der Beginn einer nächsten.
    Elfriede Czurdas "dunkelziffer" ist ein aufs Scheitern angelegter lyrischer Terroranschlag auf die globale Herrschaft der Zahlen. Ihre mit sehr viel Liebe zum optischen Detail gedruckte lyrische Dekonstruktion steckt zwar voller poetischer Ideen, philosophischer Erkenntnisse und überraschender kombinatorischer Effekte. Doch das nahezu übermenschliche Projekt überfordert leider zuweilen selbst den geneigten Leser, der von den wuchernden Wortkombinationen ein ums andere Mal überflutet zu werden droht.

    Elfriede Czurda: "dunkelziffer". 172 Seiten. Edition Korrespondenzen 2011. 21,50 Euro.