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Postmoderne Perspektiven des Ethischen

Als das postmoderne Denken an den Universitäten auftauchte, sträubten sich konservativen wie fortschrittlichen Ethikern vor allem deshalb die Haare, weil die neue Richtung nicht nur die Denkstrategien "Fortschritt” und "Aufklärung” zu mißachten schien, sondern vor allem, weil sie als "nichtethisch” schlechthin galt, als eine Sache, die schick war bei Ästhetikern, Irrationalisten und Alternativen.

Reinhard Knodt |
    Inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Die "Postmoderne” ist nicht mehr so schick, dafür aber vielfach schon Fakt – jedenfalls im Sinn eines informationstechnologisch bedingten Zugleichs vieler Perspektiven. Ihre einstigen Gegner haben sich auf die Reservate der Moderne zurückgezogen – und so können nun die Enfants terribles von einst das tun, was man am allerwenigsten von ihnen erwartet hätte – über Ethik nachdenken.

    Eine "Reibung" im Zusammenklang der Worte Ethik und Postmoderne ist dem neuen im Fink Verlag erschienenen Buch Hans Martin Schönherrs freilich nach wie vor anzumerken. Allenfalls "postmoderne Perspektiven des Ethischen” werden da nämlich vorsichtig angekündigt und erinnern daran, daß Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger, Adorno, Deleuze und andere postmoderne Gewährsleute bekanntlich keine "Ethik” geschrieben und dies auch ausführlich begründet haben. Schopenhauer etwa, der sagte, die Ethik sei etwas für Kinder oder Halbwüchsige; Nietzsche, der in ihr den zur Hybris gewordenen Machtwillen Schwacher analysierte. Heidegger sah in ethischen Handlungsanweisungen geradezu den Problemstand eines Menschen, der stets viel zu viel handle, statt den Sinn des Handelns zu bedenken. Die Auskünfte Adornos und die des Psychologen Deleuze wie der amerikanischen Pragmatiker - vor allem Rorty, den Schönherr analysiert, gehen grundsätzlich in eine ähnliche Richtung, nämlich in die eines "Abschieds vom Prinzipiellen jenem Verfahren, das im Aufstellen prinzipieller Normen und Imperative ethische Orientierung suchte."

    Unter den Perspektiven der Postmoderne erweisen sich folgerichtig die großen Leitbilder ethischen Denkens im 20. Jahrhundert – etwa Blochs Prinzip Hoffnung und Hans Jonas "Prinzip Verantwortung” – auch als die beiden berühmtesten Varianten des Scheiterns – des Scheiterns insofern, als solche Entwürfe sowohl als Utopien (Bloch) wie auch als Apokalypsentheorien (Jonas) – im Grunde Fundamentalismen sind, das heißt die Suche nach prinzipiellen Normen in einer Zeit, in der die Tugenden der Relativierungen gefragt wären.

    Eine gegenwartsorientierte Ethik – so Schönherr - kann den Niedergang allgemeiner imperativischer Werte weder durch fundamentalistische Rückgriffe, noch aber auch durch ein Beibehalten der simplen Tagesordnung des Fortschritts aufhalten. Dagegen sei zu stellen eine "gegenwartsorientierte Suche nach menschlichen Formen der Ethik - und diese ist nun für den Verfasser der postmodernen Perspektiven des Ethischen die eklektische Revision der letzten philosophischen Generation auf Brauchbares hin.

    Untersucht werden Heidegger, Wittgenstein, Rorty und Levinas sowie die zeitgenössische Hermenetuik. Die Fundstücke sind die Topoi "Einblick” "Offenheit” und "Ereignis” und mit Blick auf den späten Wittgenstein die Empfehlung, "Sprache” als "schwingenden und schwebenden” Bezug des Menschen zur Welt einzusehen, demgegenüber Ethik als Regulierungs- und Koordinationsmedium bereits Verfälschung beinhaltet. Mit Rorty ist das alte religiöse Toleranzpostulat auf die verschiedenen Sprachspiele der Kulturen der Welt zu übertragen. Globale Normen statt dessen rechtfertigten Menschliches wie Unmenschliches und sind daher obsolet. Die "Tugenden der Informationsgesellschaft” liegen in der Fähigkeit eines adäquaten Umgangs mit dem Fremden, der gelingenden Zwischenmenschlichkeit als Verantwortungsmaßstab und dem Blick des Anderen als vitaler Quelle der Verantwortunserinnerung, ein Gedanke, der von Levinas stammt.

    Die Klimax der Überlegung ist der Begriff der Gerechtigkeit, der mit Derrida "dekonstruktiv” konzipiert wird. Der Mensch entwirft Gerechtigkeit nicht methodisch oder vernünftig, sondern verlangend – als Subjekt, das kaum stark und einheitlich gedacht werden kann, wie Descartes oder Freud es konzipierten, sondern eher im Sinne Gianni Vattimos aus Italien, von dem Schönherr lernt, daß Ethik "schwach” zu sein habe – das heißt, daß sie immer auch der Versuch eines Wesens blieb, das in viele komplexe Bezüge eingespannt und bis hin zur Schizophrenie sich immer nur im Anderen kooperativ entfalten kann.

    Man darf einwenden, daß hier doch eigentlich recht viel Heterogenes zusammengebacken wurde, daß institutionelle und legalistische Überlegungen völlig fehlen und viele begriffliche Übergänge nicht gerade logisch, sondern eher durch semantische Verschiebung zustandekommen. Solche Vorwürfe würden jedoch kaum treffen; zumindest würden sie die Methode verkennen, die nämlich offenläßt, ob es sich hier um einen resümierenden oder vielleicht doch eher empfehlenden Sprachgestus handelt, ob hier im Schwingen zwischen Analyse und Synthese wirklich ein System postmoderner Tugenden resümiert, oder ob nicht vor allem Korrespondenzen geschaffen werden, das heißt miteinander in Verbindung stehende, sich ergänzende, aber nicht notwendig auseinander folgende oder gar einem Prinzip geschuldete Teile.

    Schönherr hat also Ernst gemacht mit der Erkenntnis, daß das philosophische "Vielleicht” in unserer Zeit noch das Sicherste ist, daß nicht "Konsens”, sondern Toleranz das Ziel interkultureller Verständigung bleibt und daß wir im "Hören auf die Sprache” wohl eher zu einem Verhältnis zur Welt finden als von einem angemaßten Verständnis des Ganzen her. - "Postmoderne Perspektiven leiten" – so Schönherr, zur Gelassenheit als philosophischer Haupttugend und zur Befreiung von apokalyptischen wie von utopischen Orientierungen. Ihr Bewährungsort ist Zwischenmenschlichkeit, woran sich im Nachwort folgerichtig eine Überlegung zu Ironie und Freundschaft anschließt.

    Wem das zu vage ist, dem sei, mit Umberto Eco beschieden, daß die Wahrheit leider keine einfache Sache und die systematische Wahrheitsprophetie meist nur verderblich ist. Die Ethiken der Moderne waren im Grunde die Kriegsethiken der letzten beiden kriegerischen Jahrhunderte, die Ethik der Postmoderne hat ganz andere Ansprüche, humane, um das Mindeste zu sagen. - Das soll nicht heißen, daß wir uns hier oder da– oder wer weiß, am Ende an sehr vielen Plätzen der Welt, noch nicht dort befinden, wo solche Perspektiven greifen – aber wünschenswert wäre es vieleicht doch.