Nahezu unbemerkt von der westlichen Welt herrschten im Januar in Mazedonien bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Europäische Union schaute abwartend zu. Denn wer dort auf der Straße für seine Rechte kämpfte, waren Tabakbauern. Rund 30.000 Familien, also um die 150.000 Menschen des Zwei-Millionen-Volkes leben in Mazedonien vom Tabakanbau. Nach dem Wegfall der kommunistischen Planwirtschaft Anfang der 1990er-Jahre und der Privatisierung der wichtigsten Staatsbetriebe stieg die Tabakwirtschaft zum zweitgrößten Arbeitgeber auf.
Das einzig lohnende Geschäft für den rohstoffarmen Ministaat zwischen Serbien, Albanien, Griechenland und Bulgarien. Ein lukratives Nischengeschäft, das nur möglich ist, weil Mazedonien nicht zur Europäischen Union gehört, die den Tabakanbau stark einschränkt. Deshalb konnte sich hier in den vergangenen 20 Jahren eine beachtliche Tabakforschung entwickeln, Studenten und Nachwuchswissenschaftler arbeiten an Gesundheitsprojekten. Die wichtigsten Tabakfirmen der Welt versorgen sich mit mazedonischen Rohmaterial. Von einem modernen Staat westlichen Vorbilds ist Mazedonien dennoch weit entfernt, sagt die Ethnologin Miladina Monova:
"Der Staat kümmert sich überhaupt nicht mehr um irgendwelche Bürgerrechte, so das Recht auf Arbeit, das vor der Wende galt. Während in den Staaten der EU Gewerkschaften relativ gut funktionieren, existiert hier so etwa überhaupt nicht. Die Menschen müssen selbst um ihre Rechte kämpfen, oft gegen den Staat. Sie müssen jederzeit und überall flexibel sein, reguläre Arbeitsplätze gibt es nicht. Man wird nur noch pro Stunde und nicht mehr pro Monat bezahlt. Die Menschen sind auf sich gestellt. "
Die bulgarischstämmige Wissenschaftlerin vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle/Saale untersucht seit zehn Jahren, wie die ehemals kommunistischen Staaten Südosteuropas in der Moderne, der kapitalistisch geprägten westlichen Welt angekommen sind. Ihr Ergebnis am Beispiel Mazedonien: Der Wegfall der kommunistischen Strukturen hat den Weg frei gemacht für eine neue Form von Feudalismus.
Beispiel Tabakmonopol: Ein archaisch anmutendes Gesetz verbietet es den Bauern, ihre Ware selbst zu verkaufen, wenn sie staatliche Zuschüsse erhalten wollen. Ohne die Zuschüsse würden sie jedoch nicht auskommen, weil die Aufkaufpreise der vom Staat lizensierten, privaten Käufer künstlich niedrig gehalten werden. Der Profit bleibt in den Händen weniger Familien. Ethnologen wie Miladina Monova sprechen hier von einer postpostmodernen Entwicklung, die auch der Europäischen Union bevorstünden könnte:
"Die Entwicklung in Südosteuropa kann als Spiegel für die Zukunft Westeuropas gesehen werden. In den osteuropäischen Staaten nutzt man die neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten der Freizügigkeit, Flexibilisierung und Globalisierung viel stärker als in der EU, die immer noch an den Traditionen eines Sozialstaates festhalten wollen."
Die traditionelle Rolle des Staates zum Schutz des Eigentums und der Organisation der Märkte hat sich in Südosteuropa quasi aufgelöst, sagt Andreas Hemming von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Neun Monate lang lebte er in Nordalbanien, in der für Albaner legendären katholischen Enklave Mirdita. Lernte dort die Transmigranten kennen, vorwiegend Männer, die im Ausland arbeiten, um ihre Familien zu ernähren. Die grenzüberschreitende Mobilität gehört heute zum Alltag im modernen Südosteuropa. Gut ein Drittel der Albaner arbeitet heute in Griechenland und Italien. Mirdita als abstraktes Abbild von Heimat nehmen sie in ihre Auslandscommunities mit, so Hemming:
"Es ist ein komisches Gemisch, es ist klar, wenn man zurückblickt auf das, was man hatte, oder das was man will, da spielt die Modernität immer mit. Man möchte schon in seiner alten Hütte wohnen, aber dann bitte mit Satellitenfernsehen."
Das Heimatdorf, die Heimatstadt wird zum letzten Halt für eine eigene Identität. Die Staatszugehörigkeit wird zweitrangig. Die Schwierigkeiten, eine neue Identität zu finden, hat Jennifer Cash beobachtet. Die Ethnologin der Universität von Pittsburgh untersucht die Entwicklung der Feiertage in Moldawien. Neben den früheren kommunistischen Feiertagen wie dem Tag der Oktoberrevolution stehen heute traditionelle Feiertage wie Ostern und Weihnachten sowie regionale Feiertage zu Ehren eines Lokalhelden. Seit 1991 wurden ihre Zahl bereits fünfmal verändert:
"Daran kann man deutlich erkennen, wie umstritten die nationale Identität Moldawiens ist. Das hat nichts mehr damit zu tun, dass man sich Anfang der 1990er-Jahre noch wie eine Nation gefühlt hat, die durch die Unabhängigkeit entstanden ist. Die Änderung der Feiertage ist ein bis heute andauernder Streit. Das sieht man ja auch an den politischen Entscheidungen, die immer wieder zwischen einer Annäherung an die EU, dann wieder an Russland hin- und herschwanken. Je nachdem von wo man sich mehr Gewinn erhofft. Das ist noch lange nicht vorbei."
Diese Entwicklung beobachten die Kirchen sehr genau. Die wachsende Zahl an Gläubigen zeigt die Suche nach einer Identität durch Religion. Vor allem in den ländlichen Regionen der ehemals kommunistischen Staaten übernehmen Kirchenvertreter die Organisation des Alltags. Wo früher Kirchen in Turnhallen oder Büros umgebaut wurden, ziehen wieder kirchliche Prozessionen durch die Hauptstraßen, sagt Vesna Vucini-Neskovic von der Philosophischen Fakultät der Universität Belgrad:
"Die religiösen Feste sind mittlerweile eine Art Domäne, in der ein Großteil der Identität widergespiegelt wird. Die Identität ist ja immer ein kollektives Phänomen, entweder nationaler oder ethnischer Art. Wenn man die Menschen in Montenegro zum Beispiel fragt, dann sagen sie, sie sind Serbe, Bosnier, Moslem oder Kroate. Dann nennen sie noch die Region, aus der sie stammen. Religiöse Feste sind ein wichtiger Teil davon, weil man zeigen kann, dass man zu einer Gemeinschaft gehört und das kulturelle Erbe achtet."
Moderne in Südosteuropa heißt aber nicht Rückbesinnung auf die Vergangenheit, betont der Organisator der Regensburger Konferenz Ulf Brunnbauer, Leiter der Internationalen Gesellschaft für ethnologische Forschung in Südosteuropa:
"Es gibt nicht die Moderne. Wir erleben in Südosteuropa eine enorme Vielfalt kultureller Praktiken, und zwar innerhalb der einzelnen Gesellschaften. Die Kulturen unterscheiden sich sehr stark nach sozialen Schichten und die Gesellschaften Südosteuropas werden immer ungleicher. Wenn man sagt, dass sich die Moderne dadurch auszeichnet, dass sie sich radikal von dem unterscheidet, was ihr vorangeht, dann ist es eine sehr, sehr moderne Gesellschaft, weil hier in den letzten 20 Jahren kein Stein auf dem anderen geblieben ist."
Das einzig lohnende Geschäft für den rohstoffarmen Ministaat zwischen Serbien, Albanien, Griechenland und Bulgarien. Ein lukratives Nischengeschäft, das nur möglich ist, weil Mazedonien nicht zur Europäischen Union gehört, die den Tabakanbau stark einschränkt. Deshalb konnte sich hier in den vergangenen 20 Jahren eine beachtliche Tabakforschung entwickeln, Studenten und Nachwuchswissenschaftler arbeiten an Gesundheitsprojekten. Die wichtigsten Tabakfirmen der Welt versorgen sich mit mazedonischen Rohmaterial. Von einem modernen Staat westlichen Vorbilds ist Mazedonien dennoch weit entfernt, sagt die Ethnologin Miladina Monova:
"Der Staat kümmert sich überhaupt nicht mehr um irgendwelche Bürgerrechte, so das Recht auf Arbeit, das vor der Wende galt. Während in den Staaten der EU Gewerkschaften relativ gut funktionieren, existiert hier so etwa überhaupt nicht. Die Menschen müssen selbst um ihre Rechte kämpfen, oft gegen den Staat. Sie müssen jederzeit und überall flexibel sein, reguläre Arbeitsplätze gibt es nicht. Man wird nur noch pro Stunde und nicht mehr pro Monat bezahlt. Die Menschen sind auf sich gestellt. "
Die bulgarischstämmige Wissenschaftlerin vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle/Saale untersucht seit zehn Jahren, wie die ehemals kommunistischen Staaten Südosteuropas in der Moderne, der kapitalistisch geprägten westlichen Welt angekommen sind. Ihr Ergebnis am Beispiel Mazedonien: Der Wegfall der kommunistischen Strukturen hat den Weg frei gemacht für eine neue Form von Feudalismus.
Beispiel Tabakmonopol: Ein archaisch anmutendes Gesetz verbietet es den Bauern, ihre Ware selbst zu verkaufen, wenn sie staatliche Zuschüsse erhalten wollen. Ohne die Zuschüsse würden sie jedoch nicht auskommen, weil die Aufkaufpreise der vom Staat lizensierten, privaten Käufer künstlich niedrig gehalten werden. Der Profit bleibt in den Händen weniger Familien. Ethnologen wie Miladina Monova sprechen hier von einer postpostmodernen Entwicklung, die auch der Europäischen Union bevorstünden könnte:
"Die Entwicklung in Südosteuropa kann als Spiegel für die Zukunft Westeuropas gesehen werden. In den osteuropäischen Staaten nutzt man die neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten der Freizügigkeit, Flexibilisierung und Globalisierung viel stärker als in der EU, die immer noch an den Traditionen eines Sozialstaates festhalten wollen."
Die traditionelle Rolle des Staates zum Schutz des Eigentums und der Organisation der Märkte hat sich in Südosteuropa quasi aufgelöst, sagt Andreas Hemming von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Neun Monate lang lebte er in Nordalbanien, in der für Albaner legendären katholischen Enklave Mirdita. Lernte dort die Transmigranten kennen, vorwiegend Männer, die im Ausland arbeiten, um ihre Familien zu ernähren. Die grenzüberschreitende Mobilität gehört heute zum Alltag im modernen Südosteuropa. Gut ein Drittel der Albaner arbeitet heute in Griechenland und Italien. Mirdita als abstraktes Abbild von Heimat nehmen sie in ihre Auslandscommunities mit, so Hemming:
"Es ist ein komisches Gemisch, es ist klar, wenn man zurückblickt auf das, was man hatte, oder das was man will, da spielt die Modernität immer mit. Man möchte schon in seiner alten Hütte wohnen, aber dann bitte mit Satellitenfernsehen."
Das Heimatdorf, die Heimatstadt wird zum letzten Halt für eine eigene Identität. Die Staatszugehörigkeit wird zweitrangig. Die Schwierigkeiten, eine neue Identität zu finden, hat Jennifer Cash beobachtet. Die Ethnologin der Universität von Pittsburgh untersucht die Entwicklung der Feiertage in Moldawien. Neben den früheren kommunistischen Feiertagen wie dem Tag der Oktoberrevolution stehen heute traditionelle Feiertage wie Ostern und Weihnachten sowie regionale Feiertage zu Ehren eines Lokalhelden. Seit 1991 wurden ihre Zahl bereits fünfmal verändert:
"Daran kann man deutlich erkennen, wie umstritten die nationale Identität Moldawiens ist. Das hat nichts mehr damit zu tun, dass man sich Anfang der 1990er-Jahre noch wie eine Nation gefühlt hat, die durch die Unabhängigkeit entstanden ist. Die Änderung der Feiertage ist ein bis heute andauernder Streit. Das sieht man ja auch an den politischen Entscheidungen, die immer wieder zwischen einer Annäherung an die EU, dann wieder an Russland hin- und herschwanken. Je nachdem von wo man sich mehr Gewinn erhofft. Das ist noch lange nicht vorbei."
Diese Entwicklung beobachten die Kirchen sehr genau. Die wachsende Zahl an Gläubigen zeigt die Suche nach einer Identität durch Religion. Vor allem in den ländlichen Regionen der ehemals kommunistischen Staaten übernehmen Kirchenvertreter die Organisation des Alltags. Wo früher Kirchen in Turnhallen oder Büros umgebaut wurden, ziehen wieder kirchliche Prozessionen durch die Hauptstraßen, sagt Vesna Vucini-Neskovic von der Philosophischen Fakultät der Universität Belgrad:
"Die religiösen Feste sind mittlerweile eine Art Domäne, in der ein Großteil der Identität widergespiegelt wird. Die Identität ist ja immer ein kollektives Phänomen, entweder nationaler oder ethnischer Art. Wenn man die Menschen in Montenegro zum Beispiel fragt, dann sagen sie, sie sind Serbe, Bosnier, Moslem oder Kroate. Dann nennen sie noch die Region, aus der sie stammen. Religiöse Feste sind ein wichtiger Teil davon, weil man zeigen kann, dass man zu einer Gemeinschaft gehört und das kulturelle Erbe achtet."
Moderne in Südosteuropa heißt aber nicht Rückbesinnung auf die Vergangenheit, betont der Organisator der Regensburger Konferenz Ulf Brunnbauer, Leiter der Internationalen Gesellschaft für ethnologische Forschung in Südosteuropa:
"Es gibt nicht die Moderne. Wir erleben in Südosteuropa eine enorme Vielfalt kultureller Praktiken, und zwar innerhalb der einzelnen Gesellschaften. Die Kulturen unterscheiden sich sehr stark nach sozialen Schichten und die Gesellschaften Südosteuropas werden immer ungleicher. Wenn man sagt, dass sich die Moderne dadurch auszeichnet, dass sie sich radikal von dem unterscheidet, was ihr vorangeht, dann ist es eine sehr, sehr moderne Gesellschaft, weil hier in den letzten 20 Jahren kein Stein auf dem anderen geblieben ist."