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Postnatale Depression als Bühnen-Film

Katie Mitchell führt einen Klassiker der feministischen Literatur an der Berliner Schaubühne als Bühnen-Film in die Gegenwart: "Die gelbe Tapete" von Charlotte Perkins Gilman. Die filmische Erzählung setzt sich aus einer Collage von Bildern, Stimmen und Tönen zusammen. Eine Überraschung bringt das Ende der Inszenierung.

Von Eberhard Spreng | 17.02.2013
    Eigentlich sollte der Aufenthalt in dem alten Landhaus beruhigend auf Annas zerrüttete Nerven wirken, die nach der Geburt ihres Sohnes unter einer postnatalen Depression leidet, wie man es heute ausdrücken würde. Eine "nervlich bedingte Depression", eine "leichte hysterische Neigung" nannte es Charlotte Perkins Gilman vor gut 120 Jahren in ihrer autobiografisch gefärbten Erzählung "Die gelbe Tapete". Aber dieses Zimmer im Obergeschoss ist nichts für die Nerven von Anna, denn es hat eine angeranzte gelbe Tapete, deren Muster sich geradezu perfekt mit den manischen Grübeleien der jungen Mutter verzahnen. Hinter der Tapete ahnt sie eine Frau, die Wand wird ihr so zu einer transparenten Folie für den Blick in eine andere Welt.

    Nachts werden Gitterstäbe aus dem Muster, die Schatten. Ich frage mich manchmal, wer da eingesperrt ist hinter diesen Gitterstäben. Es gibt Dinge in dieser Tapete, um die nur ich weiß. Vor Kurzem ist es mir gelungen, hinter diesen Gitterstäben eine Frau auszumachen. Verschwommen zwar, aber ja: eine Frau. Sie möchte mir etwas sagen.

    Ursina Lardi spricht Annas Gedanken, den inneren Monolog in einer Schallkabine in Telefonzellengröße, direkt rechts neben einem kleinen Spielraum mit altmodischem Interieur. Links daneben werkelt Cathleen Gawlich mit diversen Materialien, um Geräusche zu erzeugen, die den Bildern zugemischt werden, die vier Videokameras aus schnell wechselnden Positionen von dem spärlichen Geschehen in dem gelben Zimmer und dem angrenzenden Treppenaufgang einfangen. Alle Elemente der filmischen Erzählung, die vor unseren Augen produziert werden soll, liegen getrennt vor, als Material, das sich als Collage von Bildern, Stimmen und Tönen zu einem Ganzen fügen soll. Deshalb agiert zu der vor ihr getrennten Stimme, Judith Engel fast wortlos in dem depressiven Gefängnis. Mit scheuem Lächeln versucht sie ihrem Mann Normalität zu signalisieren, mit panischen Beschwörungsgesten versucht sie das von Iris Becher verkörperte Kindermädchen Tania von sich und dem Zimmer fernzuhalten.

    Großaufnahmen der Gesichter, aber auch des Frühstückstabletts und anderer Details bebildern wie ein Kaleidoskop Aspekte der selbst gewählten Isolation. Immer wieder zu sehen sind aber vor allem Großaufnahmen des Wandschmucks, Überblendungen zu einer leibhaftigen Frau hinter der Tapete, die Luise Wolfram spielt, wie eine feenhafte Verheißung, mit tiefgründigem Lächeln, ein Engel weniger als eine dubiose Verführung. Braune Gaze wird mitunter vor die Kameras gespannt, um die fahle Vision in Bilder zu fassen. Auch ist den Videobildern die zeitgenössische Abbildungspräzision ausgetrieben worden. Sie wirken mit ihren flachen Farben wie Bilder einer verschlissenen Fernsehtechnik vergangener Jahrzehnte. Die optische Patina bringt die Geschichte zwar in ein vergangenes Irgendwo, aber dies entspricht nicht der Epoche, in der Gilmans emanzipatorischer Schreibimpuls aufkeimte, diese Selbstrettung gegen die Bevormundung eines Nervenarztes, der ihr absolutes Arbeitsverbot empfohlen hatte. Noch auch sind wir im Heute, wo eine moderne Mutti ihren Babyblues erlebt.

    Der von anderen Mitchell-Abenden bekannte Reiz, mal auf die Bühne mit den umherhuschenden Kameraleuten und Schauspielern und mal auf die darüber angebrachte Leinwand zu schauen, um mal die Teile mal das Ganze zu erfassen, will sich hier nicht einstellen. In die Leere geht die Schaulust an einem theatralischen Making-Of, das insofern "gefaked" ist, als sich in Mitchells Pseudo-Film ein cineastischer Fluss, ein Rhythmus der Bilderzählung, überhaupt nicht einstellt. Obwohl man sieht, wie permanent hastig mit Stativbeinchen hantiert und an verhakten Kabeln genestelt wird.

    Am Ende hat Anna den gelben Wandschmuck abgekratzt und die Frau hinter der Tapete freigelegt. In einem Raum rechts neben dem ursprünglichen Spielraum, wie in einer gedoubelten Parallelwelt, skizzieren zarte Umarmungen der beiden die Chance einer lesbischen Beziehung. Dann aber legt sich Anna in die mit Wasser gefüllte Badewanne und die mysteriöse Dame bringt majestätisch einen elektrischen Fön herbei. Im nächsten Bild findet Christoph seine Frau tot vor. Das ist ein radikal anderes Ende als im Original, wo eine geläuterte junge Frau über ihren Mann hinweg steigen musste, der in Ohnmacht gefallen war, nachdem er sie inmitten der abgerissenen Tapete erblickt hatte. Die Frau hinter der Tapete, dieses Alter Ego, ist für Mitchell nichts anderes als ein schönes Fatum, der Todesengel. Das ist für diesen Klassiker der feministischen Literatur nach 120 Jahren Wirkungsgeschichte eine kuriose Bilanz.

    "Die gelbe Tapete" an der Berliner Schaubühne

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