" Ich komme aus den Niederlanden. Das meint, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich nicht länger einer Kirche zugehört. Und dann kann man schauen, wie Religion wieder entdeckt wird von den Jugendlichen in den Niederlanden oder von Immigranten, entweder Muslim oder Christimmigranten, "
meint Professor Hijme Stoffels, Religionssoziologe an der Universität Amsterdam. Und Per Petterson, Theologe an der Universität Karlstad sieht auch in Schweden ein neu erwachtes Interesse an religiösen Fragen.
" Es gibt ein Interesse, ein offenes Interesse, aber ohne Strenge, mehr so wie Suchende, man sucht etwas. "
In Polen wiederum lockere sich das Verhältnis der Menschen zur Kirche, meint der Soziologe Professor Tadeusz Borkowski von der Universität Krakau:
" Es gibt einige Stereotype über polnische Religiosität. Aber natürlich hat sich da viel verändert. Also zum Beispiel die letzten statistischen Daten sagen uns, dass in den großen Städten nicht mehr als 30 Prozent der Menschen sonntags zur Kirche gehen: und in Dörfern und Kleinstädten sind es etwas mehr als 50 Prozent."
Die Kirchen bleiben leer, das Interesse an religiösen Fragen nimmt zu. Lange galt in der intellektuellen Welt Nietzsches "Gott ist tot" als letztmöglicher Kommentar zum Thema. Doch seit geraumer Zeit spricht man von einem neuen Interesse an Religion. Von religiösen Bedürfnissen, die gerade bei Jugendlichen festzustellen sind. Auch wenn es Unterschiede in einzelnen Ländern gibt, wie Professor Hans Georg Ziebertz, Herausgeber des Bandes "Youth in Europe" - Jugend in Europa - erläutert:
" Weil wir Holland, die skandinavischen Länder oder auch Deutschland nicht vergleichen können mit etwa Polen, wo noch ein sehr hoher Grad von Kirchenmitgliedschaft und religiöser Praxis unter Jugendlichen geschieht, während England, Irland in der Mitte liegen."
Die Jugendlichen entscheiden heute selber, was sie glauben wollen. Konfessionen, Glaubensbekenntnisse, Dogmen gar, all das wird vielleicht zur Kenntnis genommen. Aber überzeugen können solche Traditionen kaum noch. Selbst im katholischen Polen setzen sich die Menschen zunehmend kritisch mit ihrer Religion auseinander.
" Es ist eine große Herausforderung für unsere Priester. Es ist keine einfache Diskussion, die können die Leute nicht einfach anweisen, macht es so oder so. Sondern die Leute stellen Fragen und erwarten gute Antworten von den Priestern, gut begründete Antworten."
Zwar findet man in Europa nach wie vor wenige Vertreter atheistischer oder nihilistischer Weltanschauungen. Aber die christliche Vorstellung eines persönlichen, dreifaltigen Gottes trägt auch nicht mehr. Man glaubt - irgendwie - ins Ungewisse hinein, wie Hijme Stoffels aus Amsterdam erläutert:
" Eine Umfrage unter Jugendlichen hat ausgewiesen, dass mehr als 80 Prozent manchmal betet, und die große Mehrheit der Jugendlichen ist nicht einer Kirche zugehörig. Die beten ins Blaue hinein, aber doch sie beten, sie haben davon Spiritualität, ein Bedürfnis als mehr als nur das Materialismus."
Hans Georg Ziebertz beschreibt diese Tendenz in seiner Veröffentlichung:
" Wir treffen einen Mix verschiedener Ideen an, die etwa in dem Glauben an Gott oder eine höhere Wirklichkeit sehr flexibel sind im Denken, wie sich das ereignen kann, umgekehrt muss man auch sagen, es ist eine kleine Minderheit, die solche Ideen überhaupt ablehnt. Für die meisten gibt es so etwas wie eine höhere Wirklichkeit, aber die ist meistens abstrakt, die meisten würden sich scheuen, dafür Bilder zu nehmen, die von den christlichen Kirchen angeboten werden."
Statt klaren Dogmen nimmt man von allem etwas: ein bisschen Christentum hier, ein bisschen Buddhismus dort, gewürzt mit einer Prise Esoterik. Patchwork-Religion! Der Zeitgeist, könnte man boshaft sagen, schafft sich einen modernen Gott. Der Mainzer Kardinal Lehmann bezeichnete dies vor kurzem missbilligend als "Wellness-Religion". Denn dass Religion auch immer die Zu-Mutung enthält, sein eigenes Leben dem Göttlichen zu unterwerfen, kommt darin nicht vor. Hauptsache "es fühlt sich für mich richtig an". Für dich mag etwas anderes gelten! Professor Ziebertz kann dem durchaus Positives abgewinnen:
" Wenn junge Leute die Wahrheit einer Religion ablehnen, dann lehnen sie auch die Exklusivität einer Religion oder einer Konfession ab. Auf der anderen Seite zeigt sich das aber auch in der Wertschätzung der anderen Religionen. Wenn ich akzeptiere, dass ich meine Religion haben kann, andere aber nicht ablehnen muss, dann ist das ja nicht nur eine Abkehr von einer strengen katholischen Auffassung. Sondern es zeigt auch ein Stück Flexibilität im Denken, das heute vielleicht auch mehr zu gesellschaftlichem Frieden führt."
Die Ergebnisse der Würzburger Jugendstudie zeigen, dass da, wo die eigene Religion als die eine, die einzige Wahrheit gilt, das Maß an Toleranz niedrig ist. Z.B. in der islamischen Türkei. Dort zeigt sich eine verstärkte Abgrenzung gegenüber Anderem, Fremden. Dasselbe gilt aber übrigens auch da, wo christlich fundamentalistische Strömungen zum Tragen kommen.
" Wenn wir die empirischen Daten sehen, die wir über die türkischen Jugendliche haben, dann irritiert uns ein wenig der Zusammenhang von streng religiösen Einstellungen und Xenonphobie, also Fremdenfeindlichkeit. Wir sehen, dass eine stark religiös orthodoxe Einstellung korreliert mit Fremdenfeindlichkeit, mit der Einstellung zur Gewalt und einiges mehr. Der einzige Unterschied in der Türkei ist, dass das für mehr Jugendliche zutrifft, aber unter ebenso katholischen oder streng protestantischen finden wir dieselben Zusammenhänge, zeigt dieselbe Übereinstimmung zwischen z.B. Fremdenfeindlichkeit und religiöser Einstellung."
Gerade in der Zeit des drohenden Kampfs der Kulturen wird zunehmend die Frage gestellt, ob islamische Länder nicht überhaupt prä-säkulare Gesellschaften sind, Gesellschaften also, in denen Religion die Politik weitgehend mitbestimmt. Für die Türkei jedoch widersprach dem Bülent Senay, Professor für vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Bursa:
" Muslime, traditionelle Muslime in der Türkei sind wirklich säkularisiert. Zum Beispiel ist die Türkei das einzige Land weltweit, wo auch Frauen 'weise Muftis' werden können - das heißt, sie können islamische Rechtsgutachten, so genannte Fatwas, erstellen. Fast 70 Prozent der Theologie-Studenten sind Frauen. Und z.B. ist die Türkei berühmt für ihre Textilindustrie und ein wichtiger Teil dieser Industrie betrifft die Kopftuch-Mode. Und die Muslime und die islamischen Intellektuellen betonen die Rolle der Rationalität - nicht des Rationalismus. Und das sind starke Gründe dafür, warum man die Türkei nicht so einfach "präsäkular" nennen sollte."
Dass freilich eine Kopftuch-Modeindustrie oder die Beteiligung von Frauen an den religiösen Diskursen des Islam bereits als Zeichen säkularer Gesinnung zu interpretieren sind, verwundert Europäer möglicherweise. Und übrigens hatte auch im christlichen Mittelalter die Vernunft einen hohen Stellenwert - aber sie blieb doch immer der Wahrheit der Bibel unterworfen. "Säkular" wurden die europäischen Gesellschaften ja erst, als die Vernunft sich von der Religion löste. Als die Religion, wie Immanuel Kant es forderte, aus dem Bereich des Wissens in den Bereich des Glaubens verwiesen wurde. Als der Staat sich von der Kirche emanzipierte. Als die Aufklärung den Menschen dazu aufforderte, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Bülent Senay meint allerdings, dass diese Art der europäischen Aufklärung auf die türkische Geschichte nicht passen würde:
" Natürlich hat die Türkei keine Aufklärung durchlaufen in einem westlich-europäischen Stil, aber die Frage ist, hätte sie das tun sollen? Ich glaube nicht. Es gibt Intellektuelle, die sagen, dass unterschiedliche Gesellschaften unterschiedliche Typen der Moderne durchlaufen können. Basierend auf ihrer eigenen Zivilisation und ihren traditionellen Werten."
Dass Europa, im Gegensatz möglicherweise zu Teilen der islamischen Welt, säkularisiert ist, steht außer Frage. Religion ist hier eine private Glaubenentscheidung und hat keinen Einfluss auf die politische Ordnung. Das Folgeprojekt zu der gerade abgeschlossenen Studie beschäftigt sich nun aber mit der Frage, ob es noch etwas nach der Säkularisierung gebe. "Europa als eine postsäkulare Gesellschaft" ist das Thema der Untersuchung, die europäische Theologen und Soziologen nun in Angriff nehmen. Was ist damit gemeint?
" Wir haben die Terminologie aufgegriffen, weil wir etwas verstehen wollen, was nicht einfach zu verstehen ist. Dass wir auf der einen Seite Säkularität haben, und Menschen sich von Religionen abwenden, Staaten darauf bestehen, dass Religion Privatsache sein muss. Auf der anderen Seite müssen wir sehen, dass Menschen in irgendeiner Form auf Religion zugehen, religiöse Bedürfnisse zu haben scheinen. Und wir sehen eine ganz andere Ebene in Europa, etwa eine Diskussion über den Islam, die Frage, was sind die Wurzeln Europas, wenn plötzlich das zu einem Problem wird. In der säkularen Perspektive wird Religion allenfalls noch als Privatsache akzeptiert, das stimmt aber nicht: Religion ist präsent."
In Fragen des menschlichen Zusammenlebens, in Fragen zu dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur, bei Grenzfragen des menschlichen Lebens wird durchaus wieder auf die Stimme der Kirchen gehört. Selbst Intellektuelle wurden aufmerksam, als Deutschlands prominentester Sozialwissenschaftler Jürgen Habermas vor gut zwei Jahren mit Deutschlands prominentestem Theologen und heutigen Papst, Joseph Ratzinger in einen Dialog trat. Habermas räumte dabei eine "Lernbereitschaft der Philosophie gegenüber der Religion" ein. Und auch Ratzinger ermunterte zu einem Zwiegespräch zwischen Vernunft und Glauben. Lösen sich die Kirchen aus ihrem Image muffiger, vorgestriger Institutionen? Wird in einem "postsäkularen Europa" der Religion wieder mehr Bedeutung zugemessen, wie Per Petterson, Religionssoziologe, es auch in Schweden wahrzunehmen glaubt?
" Ich würde zustimmen, dass die schwedische Gesellschaft postsäkular ist in dem Sinne, dass Religion in den letzten Jahren in einer neuen Art auf die öffentliche Bühne getreten ist. Die Schweden akzeptieren, dass die Kirche eine Rolle in ihrem Leben spielt. Wir erfahren in Schweden, dass die öffentliche Rolle der Kirche heute größer als früher ist."
Macht es also Sinn, von einem 'postsäkularen Europa' zu sprechen? Vielleicht, aber dann in einem 'post-modernen' Sinn. Heute schätzt man wieder die Meinung der Kirche, wenn sie sich zu Gentechnologie, Irakkrieg oder Globalisierung äußert. Man schätzt dabei ihren moralischen Ernst, der im Interesse der Menschen, nicht im Interesse der Politik oder der Wirtschaft spricht. Doch Kirche und Religion sind mehr als philosophische Ethiken. Sie haben eine Botschaft, die von Über-Irdischem handelt, vom Jenseits, von einem Leben nach dem Tod, von einem Gott, der sich für die Menschen geopfert hat. Und hier, in ihrer Heilsbotschaft, verliert die Kirche weiterhin an Boden. Nur noch 45 Prozent der deutschen Katholiken glauben an die Auferstehung nach dem Tod - bei den Protestanten sind es sogar nur 27 Prozent. Und mehr Christen glauben an einen persönlichen Schutzengel als an einen dreifaltigen Gott. Man glaubt 'diffus' an irgendetwas Höheres. Man ist eher "spirituell" als religiös. Das "postsäkulare" Europa ist zugleich ein "postchristliches" Europa: es steht in der Tradition des Christentums, das aber zunehmend seine Gestaltungskraft verliert.
Doch muss man das bedauern? Religiöse Antworten können durchaus eine Bereicherung sein in einer säkularen Gesellschaft, eine Gegenstimme zur nüchternen Vernunft, zu Ökonomismus und Materialismus. Aber Religionen neigen auch, das zeigen Vergangenheit und Gegenwart sehr deutlich, zu Intoleranz und zu Gewalt. Göttliche Wahrheiten kennen keinen Pluralismus. Alle "letzte Wahrheit" tendiert zur Gewalt gegenüber denen, die sich nicht belehren lassen. Im postsäkularen Europa hat 'Religiöses' vielleicht wieder eine deutlichere Stimme, doch selbstverständlich nicht länger - das letzte Wort.
" Aus persönlichem Interesse würde ich meine Aufmerksamkeit gern darauf richten, welche Rolle Religion im Hinblick auf den sozialen Zusammenhalt, auf Solidarität und Toleranz in Europa spielen könnte. Gibt es Aspekte in der Religion, die uns dabei helfen, Europas Zukunft mit aufzubauen? Aber wir müssen ebenso wachsam sein im Hinblick auf eventuelle negative Effekte. Auch wenn viele von uns hier sich mit Religion beschäftigen und wahrscheinlich eine positive Einstellung gegenüber den Möglichkeiten der Religion haben - in der Geschichte haben wir große negative Wirkungen von Religion gesehen. "
Weitere Themen:
Andreas Beckmann
Über Verlierer und Opfer
Eine internationale Tagung am Einstein-Forum Potsdam
Ursula Storost
Das Soziale muss neu gedacht werden
Eine Vortragsreihe im Hamburger Institut für Sozialforschung
Hilde Weeg
Gewaltfreie Konfliktlösungen
Das Forum Friedenspsychologie tagte an der Universität Jena
Michael Roehl
Wie widersprüchlich ist das Verhalten der Konsumenten?
Eine Tagung zum Thema Konsum an der Universität Trier
Interview mit Prof. Dr. Michael Jäckel
Die Manuskripte zur Sendung finden Sie in der Rubrik "Downloads".
meint Professor Hijme Stoffels, Religionssoziologe an der Universität Amsterdam. Und Per Petterson, Theologe an der Universität Karlstad sieht auch in Schweden ein neu erwachtes Interesse an religiösen Fragen.
" Es gibt ein Interesse, ein offenes Interesse, aber ohne Strenge, mehr so wie Suchende, man sucht etwas. "
In Polen wiederum lockere sich das Verhältnis der Menschen zur Kirche, meint der Soziologe Professor Tadeusz Borkowski von der Universität Krakau:
" Es gibt einige Stereotype über polnische Religiosität. Aber natürlich hat sich da viel verändert. Also zum Beispiel die letzten statistischen Daten sagen uns, dass in den großen Städten nicht mehr als 30 Prozent der Menschen sonntags zur Kirche gehen: und in Dörfern und Kleinstädten sind es etwas mehr als 50 Prozent."
Die Kirchen bleiben leer, das Interesse an religiösen Fragen nimmt zu. Lange galt in der intellektuellen Welt Nietzsches "Gott ist tot" als letztmöglicher Kommentar zum Thema. Doch seit geraumer Zeit spricht man von einem neuen Interesse an Religion. Von religiösen Bedürfnissen, die gerade bei Jugendlichen festzustellen sind. Auch wenn es Unterschiede in einzelnen Ländern gibt, wie Professor Hans Georg Ziebertz, Herausgeber des Bandes "Youth in Europe" - Jugend in Europa - erläutert:
" Weil wir Holland, die skandinavischen Länder oder auch Deutschland nicht vergleichen können mit etwa Polen, wo noch ein sehr hoher Grad von Kirchenmitgliedschaft und religiöser Praxis unter Jugendlichen geschieht, während England, Irland in der Mitte liegen."
Die Jugendlichen entscheiden heute selber, was sie glauben wollen. Konfessionen, Glaubensbekenntnisse, Dogmen gar, all das wird vielleicht zur Kenntnis genommen. Aber überzeugen können solche Traditionen kaum noch. Selbst im katholischen Polen setzen sich die Menschen zunehmend kritisch mit ihrer Religion auseinander.
" Es ist eine große Herausforderung für unsere Priester. Es ist keine einfache Diskussion, die können die Leute nicht einfach anweisen, macht es so oder so. Sondern die Leute stellen Fragen und erwarten gute Antworten von den Priestern, gut begründete Antworten."
Zwar findet man in Europa nach wie vor wenige Vertreter atheistischer oder nihilistischer Weltanschauungen. Aber die christliche Vorstellung eines persönlichen, dreifaltigen Gottes trägt auch nicht mehr. Man glaubt - irgendwie - ins Ungewisse hinein, wie Hijme Stoffels aus Amsterdam erläutert:
" Eine Umfrage unter Jugendlichen hat ausgewiesen, dass mehr als 80 Prozent manchmal betet, und die große Mehrheit der Jugendlichen ist nicht einer Kirche zugehörig. Die beten ins Blaue hinein, aber doch sie beten, sie haben davon Spiritualität, ein Bedürfnis als mehr als nur das Materialismus."
Hans Georg Ziebertz beschreibt diese Tendenz in seiner Veröffentlichung:
" Wir treffen einen Mix verschiedener Ideen an, die etwa in dem Glauben an Gott oder eine höhere Wirklichkeit sehr flexibel sind im Denken, wie sich das ereignen kann, umgekehrt muss man auch sagen, es ist eine kleine Minderheit, die solche Ideen überhaupt ablehnt. Für die meisten gibt es so etwas wie eine höhere Wirklichkeit, aber die ist meistens abstrakt, die meisten würden sich scheuen, dafür Bilder zu nehmen, die von den christlichen Kirchen angeboten werden."
Statt klaren Dogmen nimmt man von allem etwas: ein bisschen Christentum hier, ein bisschen Buddhismus dort, gewürzt mit einer Prise Esoterik. Patchwork-Religion! Der Zeitgeist, könnte man boshaft sagen, schafft sich einen modernen Gott. Der Mainzer Kardinal Lehmann bezeichnete dies vor kurzem missbilligend als "Wellness-Religion". Denn dass Religion auch immer die Zu-Mutung enthält, sein eigenes Leben dem Göttlichen zu unterwerfen, kommt darin nicht vor. Hauptsache "es fühlt sich für mich richtig an". Für dich mag etwas anderes gelten! Professor Ziebertz kann dem durchaus Positives abgewinnen:
" Wenn junge Leute die Wahrheit einer Religion ablehnen, dann lehnen sie auch die Exklusivität einer Religion oder einer Konfession ab. Auf der anderen Seite zeigt sich das aber auch in der Wertschätzung der anderen Religionen. Wenn ich akzeptiere, dass ich meine Religion haben kann, andere aber nicht ablehnen muss, dann ist das ja nicht nur eine Abkehr von einer strengen katholischen Auffassung. Sondern es zeigt auch ein Stück Flexibilität im Denken, das heute vielleicht auch mehr zu gesellschaftlichem Frieden führt."
Die Ergebnisse der Würzburger Jugendstudie zeigen, dass da, wo die eigene Religion als die eine, die einzige Wahrheit gilt, das Maß an Toleranz niedrig ist. Z.B. in der islamischen Türkei. Dort zeigt sich eine verstärkte Abgrenzung gegenüber Anderem, Fremden. Dasselbe gilt aber übrigens auch da, wo christlich fundamentalistische Strömungen zum Tragen kommen.
" Wenn wir die empirischen Daten sehen, die wir über die türkischen Jugendliche haben, dann irritiert uns ein wenig der Zusammenhang von streng religiösen Einstellungen und Xenonphobie, also Fremdenfeindlichkeit. Wir sehen, dass eine stark religiös orthodoxe Einstellung korreliert mit Fremdenfeindlichkeit, mit der Einstellung zur Gewalt und einiges mehr. Der einzige Unterschied in der Türkei ist, dass das für mehr Jugendliche zutrifft, aber unter ebenso katholischen oder streng protestantischen finden wir dieselben Zusammenhänge, zeigt dieselbe Übereinstimmung zwischen z.B. Fremdenfeindlichkeit und religiöser Einstellung."
Gerade in der Zeit des drohenden Kampfs der Kulturen wird zunehmend die Frage gestellt, ob islamische Länder nicht überhaupt prä-säkulare Gesellschaften sind, Gesellschaften also, in denen Religion die Politik weitgehend mitbestimmt. Für die Türkei jedoch widersprach dem Bülent Senay, Professor für vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Bursa:
" Muslime, traditionelle Muslime in der Türkei sind wirklich säkularisiert. Zum Beispiel ist die Türkei das einzige Land weltweit, wo auch Frauen 'weise Muftis' werden können - das heißt, sie können islamische Rechtsgutachten, so genannte Fatwas, erstellen. Fast 70 Prozent der Theologie-Studenten sind Frauen. Und z.B. ist die Türkei berühmt für ihre Textilindustrie und ein wichtiger Teil dieser Industrie betrifft die Kopftuch-Mode. Und die Muslime und die islamischen Intellektuellen betonen die Rolle der Rationalität - nicht des Rationalismus. Und das sind starke Gründe dafür, warum man die Türkei nicht so einfach "präsäkular" nennen sollte."
Dass freilich eine Kopftuch-Modeindustrie oder die Beteiligung von Frauen an den religiösen Diskursen des Islam bereits als Zeichen säkularer Gesinnung zu interpretieren sind, verwundert Europäer möglicherweise. Und übrigens hatte auch im christlichen Mittelalter die Vernunft einen hohen Stellenwert - aber sie blieb doch immer der Wahrheit der Bibel unterworfen. "Säkular" wurden die europäischen Gesellschaften ja erst, als die Vernunft sich von der Religion löste. Als die Religion, wie Immanuel Kant es forderte, aus dem Bereich des Wissens in den Bereich des Glaubens verwiesen wurde. Als der Staat sich von der Kirche emanzipierte. Als die Aufklärung den Menschen dazu aufforderte, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Bülent Senay meint allerdings, dass diese Art der europäischen Aufklärung auf die türkische Geschichte nicht passen würde:
" Natürlich hat die Türkei keine Aufklärung durchlaufen in einem westlich-europäischen Stil, aber die Frage ist, hätte sie das tun sollen? Ich glaube nicht. Es gibt Intellektuelle, die sagen, dass unterschiedliche Gesellschaften unterschiedliche Typen der Moderne durchlaufen können. Basierend auf ihrer eigenen Zivilisation und ihren traditionellen Werten."
Dass Europa, im Gegensatz möglicherweise zu Teilen der islamischen Welt, säkularisiert ist, steht außer Frage. Religion ist hier eine private Glaubenentscheidung und hat keinen Einfluss auf die politische Ordnung. Das Folgeprojekt zu der gerade abgeschlossenen Studie beschäftigt sich nun aber mit der Frage, ob es noch etwas nach der Säkularisierung gebe. "Europa als eine postsäkulare Gesellschaft" ist das Thema der Untersuchung, die europäische Theologen und Soziologen nun in Angriff nehmen. Was ist damit gemeint?
" Wir haben die Terminologie aufgegriffen, weil wir etwas verstehen wollen, was nicht einfach zu verstehen ist. Dass wir auf der einen Seite Säkularität haben, und Menschen sich von Religionen abwenden, Staaten darauf bestehen, dass Religion Privatsache sein muss. Auf der anderen Seite müssen wir sehen, dass Menschen in irgendeiner Form auf Religion zugehen, religiöse Bedürfnisse zu haben scheinen. Und wir sehen eine ganz andere Ebene in Europa, etwa eine Diskussion über den Islam, die Frage, was sind die Wurzeln Europas, wenn plötzlich das zu einem Problem wird. In der säkularen Perspektive wird Religion allenfalls noch als Privatsache akzeptiert, das stimmt aber nicht: Religion ist präsent."
In Fragen des menschlichen Zusammenlebens, in Fragen zu dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur, bei Grenzfragen des menschlichen Lebens wird durchaus wieder auf die Stimme der Kirchen gehört. Selbst Intellektuelle wurden aufmerksam, als Deutschlands prominentester Sozialwissenschaftler Jürgen Habermas vor gut zwei Jahren mit Deutschlands prominentestem Theologen und heutigen Papst, Joseph Ratzinger in einen Dialog trat. Habermas räumte dabei eine "Lernbereitschaft der Philosophie gegenüber der Religion" ein. Und auch Ratzinger ermunterte zu einem Zwiegespräch zwischen Vernunft und Glauben. Lösen sich die Kirchen aus ihrem Image muffiger, vorgestriger Institutionen? Wird in einem "postsäkularen Europa" der Religion wieder mehr Bedeutung zugemessen, wie Per Petterson, Religionssoziologe, es auch in Schweden wahrzunehmen glaubt?
" Ich würde zustimmen, dass die schwedische Gesellschaft postsäkular ist in dem Sinne, dass Religion in den letzten Jahren in einer neuen Art auf die öffentliche Bühne getreten ist. Die Schweden akzeptieren, dass die Kirche eine Rolle in ihrem Leben spielt. Wir erfahren in Schweden, dass die öffentliche Rolle der Kirche heute größer als früher ist."
Macht es also Sinn, von einem 'postsäkularen Europa' zu sprechen? Vielleicht, aber dann in einem 'post-modernen' Sinn. Heute schätzt man wieder die Meinung der Kirche, wenn sie sich zu Gentechnologie, Irakkrieg oder Globalisierung äußert. Man schätzt dabei ihren moralischen Ernst, der im Interesse der Menschen, nicht im Interesse der Politik oder der Wirtschaft spricht. Doch Kirche und Religion sind mehr als philosophische Ethiken. Sie haben eine Botschaft, die von Über-Irdischem handelt, vom Jenseits, von einem Leben nach dem Tod, von einem Gott, der sich für die Menschen geopfert hat. Und hier, in ihrer Heilsbotschaft, verliert die Kirche weiterhin an Boden. Nur noch 45 Prozent der deutschen Katholiken glauben an die Auferstehung nach dem Tod - bei den Protestanten sind es sogar nur 27 Prozent. Und mehr Christen glauben an einen persönlichen Schutzengel als an einen dreifaltigen Gott. Man glaubt 'diffus' an irgendetwas Höheres. Man ist eher "spirituell" als religiös. Das "postsäkulare" Europa ist zugleich ein "postchristliches" Europa: es steht in der Tradition des Christentums, das aber zunehmend seine Gestaltungskraft verliert.
Doch muss man das bedauern? Religiöse Antworten können durchaus eine Bereicherung sein in einer säkularen Gesellschaft, eine Gegenstimme zur nüchternen Vernunft, zu Ökonomismus und Materialismus. Aber Religionen neigen auch, das zeigen Vergangenheit und Gegenwart sehr deutlich, zu Intoleranz und zu Gewalt. Göttliche Wahrheiten kennen keinen Pluralismus. Alle "letzte Wahrheit" tendiert zur Gewalt gegenüber denen, die sich nicht belehren lassen. Im postsäkularen Europa hat 'Religiöses' vielleicht wieder eine deutlichere Stimme, doch selbstverständlich nicht länger - das letzte Wort.
" Aus persönlichem Interesse würde ich meine Aufmerksamkeit gern darauf richten, welche Rolle Religion im Hinblick auf den sozialen Zusammenhalt, auf Solidarität und Toleranz in Europa spielen könnte. Gibt es Aspekte in der Religion, die uns dabei helfen, Europas Zukunft mit aufzubauen? Aber wir müssen ebenso wachsam sein im Hinblick auf eventuelle negative Effekte. Auch wenn viele von uns hier sich mit Religion beschäftigen und wahrscheinlich eine positive Einstellung gegenüber den Möglichkeiten der Religion haben - in der Geschichte haben wir große negative Wirkungen von Religion gesehen. "
Weitere Themen:
Andreas Beckmann
Über Verlierer und Opfer
Eine internationale Tagung am Einstein-Forum Potsdam
Ursula Storost
Das Soziale muss neu gedacht werden
Eine Vortragsreihe im Hamburger Institut für Sozialforschung
Hilde Weeg
Gewaltfreie Konfliktlösungen
Das Forum Friedenspsychologie tagte an der Universität Jena
Michael Roehl
Wie widersprüchlich ist das Verhalten der Konsumenten?
Eine Tagung zum Thema Konsum an der Universität Trier
Interview mit Prof. Dr. Michael Jäckel
Die Manuskripte zur Sendung finden Sie in der Rubrik "Downloads".