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Präsidenschaftswahlen Brasilien
Kampf gegen Klüngel und Korruption

Marina Silva von der sozialistischen Partei PSB ist der Shootingstar der Präsidentschaftskandidaten in Brasilien. Sie fordert Amtsinhaberin Dilma Rouseff heraus. Für die amtierende Arbeiterpartei PT von Präsidentin Rousseff ist die erstarkende Opposition ein Denkzettel. Korruptionsskandale haben das Image ruiniert - dazu kommt eine schwache Wirtschaft.

Von Julio Segador, ARD Studio Südamerika | 13.09.2014
    Die brasilianische Präsidentschaftskandidatin Marina Silva steht an einem Rednerpult, während einem TV-Duell.
    Marina Silva hat bei der bevorstehenden Präsidenschaftswahl in Brasilien im Oktober gute Chancen die Wahl zu gewinnen. (picture alliance / dpa / Sebastio Moreira)
    Es klingt schnulzig, das Wahlkampflied von Marina Silva. Der Text des Songs trifft indes den Nerv der Brasilianer. Sie höre den Ruf des Urwaldes und auch die Stimmen der Straße. Marina, die nächste Präsidentin, werde beides zusammenführen, heißt es.
    Kopf-an-Kopf-Rennen
    Marina Silva ist der Shootingstar der Präsidentschaftskandidaten in Brasilien. Sie fordert Amtsinhaberin Dilma Rouseff heraus - deren als sicher geglaubte Wiederwahl könnte sie tatsächlich ins Wanken bringen. Erst Mitte August - nach dem Unfall-Tod des eigentlichen Kandidaten Eduardo Campos - nahm sie dessen Stelle als Kandidatin der sozialistischen Partei PSB ein. Die jüngsten Umfragen sagen ihr inzwischen sogar einen Sieg bei einer möglichen Stichwahl mit der amtierenden Präsidentin voraus. Der Politikwissenschaftler Ricardo Ismael von der Katholischen Universität in Rio de Janeiro glaubt, dass es im Oktober zum Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den beiden Frauen kommen könnte.
    "Der Pluspunkt von Marina ist: Sie steht für die Stimmung, die seit Juni 2013 sehr präsent ist in Brasilien. Die Menschen suchen nach einer neuen Alternative in der Politik. Nach etwas, das sie wieder daran glauben lässt, dass Politik auch anders möglich ist. Ich glaube, Marina kann aus dieser Stimmung Kapital schlagen."
    Silva steht für die Erneuerung der politischen Klasse
    Marina Silva steht für die Erneuerung der politischen Klasse, sie gilt als unverbraucht. Viele im Land nehmen ihr ab, dass sie Schluss macht mit Klüngel und Korruption, die alle Parteien durchziehen.
    "Diese Wahlen werden nicht durch die alten Seilschaften gewonnen. Siegen wird eine neue Haltung: Eine Haltung der Offenheit, um mit den Bürgern in einen Dialog einzutreten. Ideen müssen diskutiert werden."
    Dass ihr die Menschen im Land einen Politikwechsel abnehmen, hängt auch mit ihrer Herkunft zusammen. Marina Silva stammt aus Acre, einer Regenwald-Region im Grenzbereich zu Peru. Die Tochter eines einfachen Kautschukbauern ging erst mit 16 zur Schule, lernte spät Lesen und Schreiben. Über die Gewerkschaft kam sie in die Politik. Ex-Präsident Lula da Silva entdeckte ihr Talent und machte sie 2003 zur Umweltministerin. Ein Aufstieg, der viele im Land an den eigenen Aufstieg glauben lässt.
    Spagat zwischen Politik und Religion
    Dazu kommt, dass sie Mitglied der Evangelikalen Kirche ist. Fast jeder vierte Wähler in Brasilien sympathisiert mit diesen Freikirchen. Dabei hat Marina Silva einen Spagat zwischen Politik und Religion zu bewältigen. Etwa bei Themen wie Abtreibung und Homo-Ehe, die sie eigentlich kategorisch ablehnt, anders als weite Teile der brasilianischen Bevölkerung.
    "Diese Debatte muss mit Sorgfalt und Verantwortung geführt werden. Und das ist nicht leicht. Es geht um philosophische, spirituelle und ethische Fragen. Aber es gibt eine Menge Leute, die einem ein Etikett aufkleben wollen, statt über das Problem zu diskutieren. Ich verteufle niemanden, der für Abtreibung ist. Wir sollten darüber aber eine Volksbefragung durchführen."
    Die Präsidentin Brasiliens, Dilma Rousseff.
    Muss um die Wiederwahl bangen: Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff. (picture alliance / dpa / Joedson Alves)
    Aus Teilen der Wirtschaftselite wird die ehemalige Umweltministerin kritisch beäugt. Doch die Ökologin zeigt sich auch hier kompromissbereit, etwa wenn es um die Erschließung des Tiefsee-Rohöls geht, auf das Brasilien setzt, und das enorme Einnahmen verspricht. Noch als Umweltministerin kämpfte sie gegen dessen Ausbeutung, warnte vor einer ökologischen Katastrophe. Inzwischen klingt sie gemäßigt:
    "Das Tiefsee-Öl ist ein Schatz, den man nutzen muss. Mit aller Vorsicht, auch damit die Einnahmen daraus sorgfältig investiert werden in Bildung, um das Leben unserer Jugend zu verbessern und auch um verstärkt in Technologie, Wissen und Innovationen invstieren können. Wir sind dafür, diese Energiequelle zu erschließen, aber wir sollten dabei in die Zukunft schauen."
    Rousseff muss um Wiederwahl fürchten
    Marina Silva könnte profitieren von der Wechselstimmung in Brasilien. Präsidentin Dilma Rousseff, die lange Zeit konkurrenzlos war, muss dagegen ernsthaft um ihre Wiederwahl fürchten. Auch deshalb versucht die Amtsinhaberin die schmächtige 56-jährige Ökologin in die Enge zu treiben. Der Wahlkampf werde härter, meint Politikwissenschaftler Ricardo Ismael.
    "Einige versuchen Marina Silva als religiöse Fanatikerin abzustempeln. Besonders das Wahlkampfteam von Präsidentin Dilma Rousseff versucht dies. Dadurch soll das öffentliche Ansehen von Silva Schaden nehmen. Aber ich denke, die Kandidatin wird das von Eduardo Campos ausgearbeitete Programm weiterführen. Und das Programm geht weiter als jenes, das sie 2010 hatte."
    Für die amtierende Arbeiterpartei PT von Präsidentin Rousseff ist die erstarkende Opposition ein Denkzettel. Sie war angetreten, um das politische System Brasiliens zu erneuern und die extreme soziale Ungleichheit zu beseitigen - was zum Teil gelang, Millionen Menschen wurden aus der Armut geholt. Doch Korruptionsskandale und fragwürdige Koalitionen haben das Image ruiniert - dazu schwächelte zuletzt die Wirtschaft. Dilma Rousseff hat noch 3 Wochen Zeit, um die Wähler zu überzeugen, warum sie für vier weitere Jahre für sie und nicht für Marina Silva stimmen sollten.