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Präsidentenwahlen
Roth: Erdogan will eine andere Türkei

Grünen-Politikerin Claudia Roth hat die Entdemokratisierung in der Türkei kritisiert. Ministerpräsident Erdogans Versprechen, das Land zu modernisieren, sei seinem "absoluten Führungsanspruch" zum Opfer gefallen, sagte Roth im DLF. Sie glaube nicht, dass Erdogan noch einen Beitritt zur EU verfolge, und nannte den Wahlkampf "schmutzig und unfair".

Claudia Roth im Gespräch mit Bettina Klein | 08.08.2014
    Claudia Roth, stellvertretende Parlamentspräsidentin des Bundestages
    Claudia Roth ist stellvertretende Präsidentin des Bundestages. (picture alliance / dpa / Maurizio Gambarini)
    Recep Tayyip Erdogan, Ministerpräsident der Türkei, rechne fest damit, am kommenden Sonntag mit deutlicher Mehrheit zum Präsidenten der Türkei gewählt zu werden. Für ihn sei die Wahl eine reine Formalität, sagte die Grünen-Politikerin und Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth im Interview mit dem Deutschlandfunk. Doch Erdogan habe einen unfairen Wahlkampf geführt.

    Einst sei Erdogan angetreten, die Türkei zu modernisieren. Dieser Anspruch sei seinem absoluten Willen zur Macht zum Opfer gefallen. Erdogan verfolgte lange Zeit auch den EU-Beitritt der Türkei. "Ich glaube nicht, dass er den überhaupt noch will", sagte Roth. Wäre die Türkei in der EU, müsste sich Erdogan gewissen demokratischen Prinzipien unterordnen. Stattdessen betreibe Erdogan gerade die Entdemokratisierung der Türkei, so Roth.

    Das Interview in voller Länge:
    Bettina Klein: Die Türkei ist auch ein Schlüsselspieler in der Region, über die wir heute Morgen vielfach berichtet haben, könnte es jedenfalls sein, wenn man es sich wünschen dürfte, im positiven Sinne auch mit Blick auf die Konflikte rundum. Am Sonntag, also übermorgen, wird in der Türkei ein neuer Präsident gewählt. Premier Erdogan werden beste Chancen eingeräumt, den Sieg davonzutragen. Ihn begleiten allerdings genauso die Sorgen, er könnte in der Türkei so etwas wie ein Autokratenreich errichten. Die Grünen-Politikerin Claudia Roth ist Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und sie ist im Moment in der Türkei unterwegs und beobachtet dort den Wahlkampf, der übermorgen mit der Wahl zu Ende geht. Guten Morgen, Frau Roth!
    Claudia Roth: Schönen guten Morgen, Frau Klein!
    "Ein schmutziger, unfairer Wahlkampf"
    Klein: Erdogan gilt als eindeutiger Favorit bei den Präsidentschaftswahlen. Gibt das nach Ihrem Eindruck auch die Stimmung im Land wieder?
    Roth: Ja, bei den Anhängern von Erdogan und bei ihm selber ist es schon so, dass geglaubt wird, diese Wahl am Sonntag sei eine reine Formalität und man hätte die 50 Prozent, die nötig sind für diese erste direkte Präsidentenwahl, schon in der Tasche. Es kandidieren ja drei Personen, zum einen Erdogan für die AK-Partei, dann Ekmeleddin Ihsanoglu für die CHP und die MHP, das ist die sozialdemokratische nationalistische Partei auf der einen Seite, und es kandidiert Selahattin Demirtas für die HDP, eine kurdisch begründete Partei. Aber es ist noch nicht sicher, dass er diese 50 Prozent bekommt. Und viele, die abgestoßen sind von diesem schmutzigen, unfairen Wahlkampf, hoffen natürlich, dass er nicht gleich in der ersten Runde gewinnt. Und das muss ich Ihnen wirklich sagen, auch Ihre Kollegen, die sich noch trauen, Kritik in den Zeitungen zu üben - und das sind nicht mehr viele -, reden von einem schmutzigen, von einem unfairen Wahlkampf, von einem Wahlkampf, in dem polarisiert wird von Erdogan wie noch nie und mit populistischen Methoden Wahlkampf geführt wird.
    Klein: Was denken und was sagen eigentlich im Augenblick diejenigen, die an den Gezi-Park-Protesten im vergangenen Jahr beteiligt waren? Sie werden Erdogan vermutlich nicht wählen?
    Roth: Ja natürlich, sie werden Erdogan nicht wählen, und die ganzen säkularen Menschen - und das sind ja viele in der Türkei -, die proeuropäisch Denkenden und Lebenden, die Linken, die werden von ihm als Feinde, als Terroristen nach wie vor bezeichnet. Die werden ihn ganz sicher nicht wählen, denn wir erleben in der Türkei eine dramatische Entdemokratisierung, die Gewaltenteilung wird immer mehr aufgehoben und er macht mehr populistische Politik als jemand, der antritt, als Präsident ja alle Türken zu vertreten. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In den letzten Tagen setzt er sehr auf eine spaltende Karte, indem er sich selber immer wieder als der große sunnitische Führer bezeichnet. Ich bin Sunni, warum sagt der andere Kandidat nicht, dass er von einer Partei ist, deren Vorsitzender Alevi ist? Das sagt er nicht, weil er jetzt für die Vielfalt der Türkei eintritt, sondern weil er mit der Bezeichnung - das sind Aleviten - deutlich macht, also Sunniten, den könnt ihr nicht wählen. Und viele würden auch deswegen den anderen Kandidaten nicht wählen. Oder er sagt, der Herr Demirtas ist ja ein Zaza, ist ja ein Kurde. Damit macht er wirklich übelsten Wahlkampf, er spaltet und er polarisiert. Und das ist wirklich unfair.
    Erdogan "hat einen uneingeschränkten Machtanspruch"
    Klein: Aber vor elf Jahren ist Erdogan angetreten mit dem Anspruch, die Türkei zu modernisieren. Er hat in einigen Bereichen für Liberalisierung ja gesorgt, etwa im Strafrecht. Wiegt das jetzt eigentlich gar nicht mehr oder ist das eben der Grund, weshalb er immer noch hohe Zustimmungswerte genießt?
    Roth: Das stimmt, er hat einen Demokratisierungsprozess vorangetrieben, er hat sich stark auf die europäische Integration bezogen. Davon ist wirklich nicht mehr viel übrig geblieben, er hat einen uneingeschränkten Machtanspruch, man hat das Gefühl, er will aus dieser Türkei tatsächlich eine andere Türkei machen. Er hat ganz eindeutig vor, dass, wenn er Präsident werden sollte, wovon man ausgehen kann, er diesem Präsidenten auch deutlich mehr an Kompetenzen geben will, also er ein Präsidialsystem machen will. Und er bezieht sich - und das ist nun nicht besonders hoffnungserweckend - sehr stark auf Herrn Putin als Vorbild. Und das ist nun ganz sicher nicht die Türkei, wie sie viele wollen.
    Und er tut alles andere als zu sagen, ich will der Präsident aller Türken sein. Er hat zum Beispiel in den letzten Tagen eine Staatstrauer über drei Tage angeordnet, in der Türkei waren die Flaggen auf Halbmast wegen des Gaza-Krieges. Jetzt ist das, was in Israel, was in Palästina, was in Gaza passiert, grausam und schlimm und müsste so schnell wie möglich aufhören, aber wenn ein Präsidentschaftskandidat mit dem Palästinensertuch im Parlament auftaucht - das hat er auch getan -, dann stützt das auch antisemitische Kräfte in der Türkei und die Juden haben Angst. Wenn er unseren Bundespräsidenten Gauck als Pastor bezeichnet, den man eigentlich nicht braucht in der Türkei, dann erzählen mir Christen, dass sie Angst haben. Und die Rolle, die Erdogan außenpolitisch spielt, ist ja nun wirklich sehr zweifelhaft. Ich bin ja nun auch sehr stark berührt und bedrückt und beängstigt über das, was im Nordirak in den kurdischen Gebieten passiert mit den Jesiden, die auf der Massenflucht sind, die vertrieben sind, die eingeschlossen sind, das ist eine Tragödie. Die Stärke der sunnitischen Kräfte sind natürlich auch dadurch stark geworden, dass sie nicht nur von Katar, sondern auch von Erdogan unterstützt worden sind.
    "Er hat natürlich einen unglaublichen Zugang auf die Medien"
    Klein: Frau Roth, um noch mal dazwischenzufragen: Erdogan missbraucht Justiz und Geheimdienste, um Polizei und Kritiker auszuschalten, das wurde immer wieder berichtet. Sie haben gesagt, er tritt mit autoritärem Gehabe auf. Weshalb stört das offenbar nur eine Minderheit in der Türkei?
    Roth: Ja, Minderheit ... Es war nicht so, dass er bei der Kommunalwahl über 50 Prozent bekommen hat, das muss man auch sagen. Er hat nicht Ergebnisse wie Putin in Russland. Er hat über 40 Prozent bekommen, aber nicht die Mehrheit. Aber er hat natürlich einen unglaublichen Zugang auf die Medien. Viele, viele Journalisten in der Türkei sind im Gefängnis, eines der Länder mit der größten Zahl von Journalisten, die nicht mehr berichten können, die kriminalisiert werden. Er hat unendliche Geldquellen, er fordert in seinen großen Reden auch auf, gebt mir Geld, geht auf die Bank, zahlt mir, gebt mir Geld. Und er hat die Fläche breit besetzt und er spricht ganz eindeutig mit populistischen Mitteln die ländliche, nicht städtische, nicht gut ausgebildete Bevölkerung an und das gibt auch ...
    Klein: Aber Frau Roth, die sagt eben gerade, Erdogan ist unser Held, er hat uns den Weg in die Mittel- und Oberschicht eröffnet und er hat dem Volk eben Bildung ermöglicht. Das sind ja offenbar doch starke Argumente, die aus Sicht vieler in der Türkei für ihn sprechen nach wie vor?
    Roth: Ja, er hat tatsächlich im sozialen Bereich einiges verändert, der Zugang zu Gesundheitsversorgung und auch zu Bildung ist besser geworden, ohne Zweifel ja. Aber jetzt wird entdemokratisiert. Alles das, was er versprochen hat, der Türkei mehr Demokratie, mehr Rechtsstaatlichkeit zu geben, das verschwindet unter diesem uneingeschränkten Führungsanspruch, den er vertritt. Er will nicht eine Türkei, die eine starke Gewaltenteilung hat, seine Gegner, die ihn kritisieren, Intellektuelle, die ihn kritisieren, haben es so schwer wie noch nie, die werden kriminalisiert und beschuldigt, von fremden Kräften gesteuert zu sein. Es ist sehr einfach, als Terrorist heute in der Türkei zu gelten, das ist auch ein kleiner Junge mit 13 Jahren, der bei den Gezi-Protesten letztendlich sein Leben verloren hat.
    "Ich glaube, er will den EU-Beitritt gar nicht mehr"
    Klein: Abschließend, Frau Roth, Sie haben selber angedeutet, Erdogan nannte kürzlich Russland und China als Vorbilder. Die Frage stellt sich also für viele: Ist die Türkei auf dem Weg in den Ein-Mann-Staat? Ist damit der EU-Beitritt der Türkei weiter weg denn je?
    Roth: Ich glaube, er will den EU-Beitritt gar nicht mehr, weil, da wäre er natürlich auch an Kriterien gebunden, an demokratische Kriterien, an rechtsstaatliche Kriterien. Aber umso mehr sollten wir die Kräfte unterstützen, die genau darauf setzen. Und das sind viele, das sind viele junge Menschen in der Türkei, das sind viele städtische Menschen, das sind übrigens nicht zuletzt viele Frauen, die geschockt waren von der Ankündigung letzte Woche des Stellvertreters von Herrn Erdogan, Herrn Arinc, der wirklich - und das war gar kein Witz - gesagt hat, Frauen sollten in der Öffentlichkeit nicht laut lachen und sie sollten auch nicht so lange am Telefon hängen und Kochrezepte austauschen. Ein katastrophales Frauenbild. Und diese Kräfte, die genau das nicht wollen, die Menschen, Europäer und moderne Demokraten sind wie Sie und ich, die müssen wir unterstützen und jetzt nicht die Türen zuknallen. Aber Erdogan hat was anderes im Kopf, das ist eine andere Türkei und das ist eine gefährliche Entwicklung.
    Klein: Claudia Roth, die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages im Augenblick unterwegs in der Türkei. Sie hat uns ihre Beobachtungen im Wahlkampf dort geschildert, der morgen mit der Präsidentschaftswahl zu Ende geht. Frau Roth, danke für das Gespräch!
    Roth: Ich danke Ihnen, Frau Klein, auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.