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Präzision der Wahrnehmung

Ein hoch konzentriertes Stück Prosa hat zu erwarten, wer zu dem neuen Roman der 1968 in Wien geborenen Autorin Olga Flor greift. Präzision der Wahrnehmung und die unterkühlte, gelegentlich ans Mimetische grenzenden Darstellung des Innenlebens eines bestimmten Milieus, Qualitäten, die das Feuilleton bereits an Olga Flors Debutbuch lobten, zeichnen auch ihren neuen Roman aus.

Von Jan Koneffke | 04.05.2005
    Anders als im Roman "Erlkönig" von 2002, der aus verschiedenen Figurenperspektiven vom Zerfall einer Industriellenfamilie erzählte - und in der Form bereits die Dialektik von Identität und Zerfall artistisch in sich vereinte - beschränkt sich die Autorin in ihrem neuen Buch "Talschluss" allerdings auf die Konstruktion eines Bewusstseinsstroms in der genauen, manchmal fast quälenden, sinnlichen und intellektuellen Perzeption von Gerüchen und Landschaft, Gesprächen oder Gesprächsfetzen und der sie begleitenden inneren Vorgänge, sei es der Erinnerungen, Erwartungen oder der Interpretation des eigenen und fremden Verhaltens.

    Die Vielschichtigkeit dieser Bewusstseinsprosa wird aber zusammengehalten durch die klassische, von Aristoteles für das Drama postulierte Trias der Einheit von Handlung, Zeit und Ort - und in der Tat glaubt man bei der Lektüre immer wieder, das Geschehen auf der Bühne vor sich zu sehen. Hätte die Autorin aus dem Stoff nicht also auch ein Theaterstück machen können?

    " Die Szene um den Tisch habe ich mir eigentlich immer recht, ja schon fast in dramatischer Form vorgestellt, also die ist auch ganz genau konstruiert, also ich hab mir das genau überlegt mit den Personen, mit den Gängen, es ist immer ein Reihumgehen, und es ist immer eine Person weniger, bis sich das am Schluss entfernt. Ich habe mich dann dafür entschieden, weil die Erzählhaltung natürlich die ist, dass es durch die Wahrnehmung einer Person einfach berichtet wird, und weil es mir ja genau darum geht, dass die Außenwahrnehmung von der Innenwahrnehmung sich immer mehr abkoppelt, und das kann ich natürlich nur in der Form machen. Also dieses Sichzurückziehen von der äußeren Hülle, die da also sitzt und weiter sich an, zumindest passiv, an der Konversation beteiligt, aber so, dass es ausreichend ist, um die Konversation aufrechtzuerhalten und die innerlich wirklich davondriftet. "

    Worum aber geht es in Olga Flors Roman? Um den sechzigjährigen Geburtstag von Grete, die auf ein erfülltes Leben zurückblicken kann: Sie ist nicht nur Mutter, Großmutter und verheiratet mit einem gut verdienenden Manager, sie hat außerdem spät noch Karriere gemacht: als Lebenshelferin, über die der Ehemann ebenso gönnerhaft wie verräterisch bemerkt: "Ich war ja immer auf ihrer Seite, immer hab ich sie unterstützt, so gut ich konnte, aber dass sie es so weit gebracht hat, das ist ihr Verdienst. Sicher hab ich ihr den Einstieg erleichtert." Erzählt wird das Geschehen aber von der ehemaligen Freundin ihres Sohnes, der Wohnungseinrichterin Katharina, und die ist es auch, die den angemieteten Bauernhof extra für das Familienfest eingerichtet hat. Der schöne Schein, sei es der angeblich ursprünglicher Natur, sei es der so perfekter wie komfortabler Inneneinrichtung, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die vertrackten Beziehungen der Familienmitglieder die Geburtstagsgesellschaft immer wieder an den Abgrund einer Krise führen, zumal im Tal auch noch eine Viehseuche ausbricht.

    " Also mir ist da vorgeschwebt dieses setting wie beim Decamerone, wo eben auch eine urbane Gesellschaft sich aufs Land zurückzieht und dort eigentlich ihre Urbanität mit hinnimmt. Das heißt, es ist wie eine Blase, eine abgeschlossene Blase, die einfach nur den Ort wechselt. Dennoch umgibt man sich mit einer zumindest optisch anderen Umgebung, um die Illusion zu haben, dass man durch das andere Umfeld eher zu einer Person findet, die man gerne sein würde oder zu verborgenen Persönlichkeitsebenen, von denen man hofft, dass sie vorhanden sein mögen. "

    Olga Flor hat das Decamerone Bocaccios freilich umgedreht: Dort flieht die Gesellschaft ja vor der Pest in der Stadt in die reinere Luft der Anhöhe von Fiesole, während das Personal von "Talschluss" gerade auf dem Land der Seuche begegnen wird. Aber auch sonst ist Flors Roman keine episch süffige Familiengeschichte vor dem Hintergrund heimtückischer Krankheit, sondern hochartifizielle Gegenwartsprosa. Hier erzählen sich die Familienmitglieder keine vergnüglichen, lehrreichen und erotischen Geschichten, um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen - hier werden ihre Lebensvorstellungen in sehr heutigen Monologen oder Gesprächen als Lebensverstellungen kenntlich, mitunter in fast satirischer Übertreibung, vor der dann aber doch die Perspektive der durch und durch involvierten Erzählerin bewahrt.

    Weit entfernt von der traditionellen österreichischen Literatur des Dorfes, die sich durch ihren Furor gegen das rückständige, stumpfe Land auszeichnet, wirft Olga Flor einen ganz und gar zeitgenössischen Blick auf die von Ökonomie und Ideologie in Schach gehaltenen Städtebewohner. Anhand der beiden Protagonistinnen, dem Geburtstagskind Grete und der Erzählerin, zeigt sie, was aus der Tradition geworden ist: Denn sowohl Katharina als auch Grete zeichnen sich durch alte weibliche Tugenden aus: das Zuhören und das Wohnlichmachen des Hauses. Aber ob bei der Lebenshelferin oder der Einrichterin - Zuhören und Wohnlichmachen sind hier zur Ware geworden. Entsprechend verteidigt sich Grete, es sei nicht unmoralisch, "Geld anzunehmen für etwas, das man den Menschen geben kann, schließlich muss einem die Gesundheit doch mindestens soviel Wert sein dürfen wie ... ein neues Auto." Die Entfremdung geht aber tiefer. Inneneinrichtung meint hier nicht nur die der Wohnung, sondern die Perfektion der Kleidung, die bis auf die "weiße Mikrounterwäsche" auf das Ambiente abgestimmt wird, ja mehr, die Perfektion der Person. In ihrem Anspruch auf Vollkommenheit tut sich die Erzählerin selbst immer wieder innerlich Gewalt an, indem sie sich etwa zwingt, ihren Ekel zu überwinden und mit fremden Speichelresten verklebte Brotkrümel zu essen. Und durchaus mit Sorge betrachtet sie auch ihre Sehnsucht nach "ein wenig weniger Einsamkeit", die sie zu einer Affäre mit dem wesentlich jüngeren Artur veranlasst.

    " Ja, ich denke der Satz charakterisiert das recht gut, weil sie natürlich in dieser Hinsicht, nachdem sie schon es einfach gewöhnt ist alleine zu leben und für sich selbst zurechtzukommen, die Dinge recht desillusioniert sieht, aber sich dennoch klar macht, ja, klar sie hat ihre Bedürfnisse nach ... ja, eben sie fragt sich, warum habe ich die eigentlich, was hab ich davon noch, was kann mir das überhaupt noch bringen, und sie kann das natürlich letztlich auch nicht klären. Das, was eben übrig bleibt, ist weniger einsam zu sein eine zeitlang, zumindest eine zeitlang, und es ist ihr auch eigentlich völlig klar, dass sie als routinierte Konsumentin halt aus dem vorhandenen Angebot auswählt, und nicht etwas ersehnt, was es nicht gibt, was nicht vorhanden ist, oder wenn dann ersehnt sie das zwar, aber schaut halt, dass sie das zumindest minimalistisch in Deckung bringt mit dem, was sie vorfindet, aber sie gibt sich auch keinen großen Illusionen da hin, und sie kann sich in dieser Abgeklärtheit wiederum selbst nicht ertragen. "

    Olga Flors Befund des seelischen Zustands der Geburtstagsgesellschaft - die selbstverständlich im Kleinen unsere heutige Gesellschaft modelliert - ist mehr als ernüchternd. Wen wundert es da, wenn die Seuchendrohung fast als Befreiung erscheint und der Erzählerin nicht nur einen Heiterkeitsausbruch beschert: "Ich lege mich aufs Bett und lache, bis die Tränen kommen."

    " Es hat natürlich was von Galgenhumor. Irgendwann einmal sieht man, dass die Mittel, die man trainiert hat, um umzugehen mit dem, was so von Außen auf einen einströmt, nicht mehr greifen und nicht mehr funktionieren, und irgendwann kann mans nur noch hinnehmen, und das ist eine gewisse Quelle für ihre Heiterkeit an manchen Stellen, das stimmt. "

    Olga Flor: Talschluss. Roman. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2005. 172 Seiten