Freitag, 29. März 2024

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Preis der Leipziger Buchmesse
Schwarz und weiß ergibt bunt

Das Kultbuch der zu Unrecht vergessenen amerikanisch-jüdische Autorin Frances Dolores Ross verwirbelt alle Stereotype. Pieke Biermann ist für ihre grandiose Übersetzung ausgezeichnet worden mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2020.

Von Antje Rávik Strubel | 12.03.2020
Buchcover: Fran Ross: „Oreo“
Als „Oreo“ 1974 in den USA erschien, ging er sang-und klanglos unter. Erst Jahrzehnte später wurde Frances Dolores Ross' Roman zum Kultbuch und ist nun auch in deutscher Übersetzung zu lesen. (Buchcover: dtv)
Am Anfang dieses fulminanten, von witzigen Ideen und sprachlichen Turbulenzen überbordenden Romans "Oreo" stehen zwei Schicksalsschläge. Als der aus jüdischer Familie stammende Samuel Schwartz seiner Mutter erzählt, er werde eine schwarze Frau heiraten, stirbt sie vor Schreck an einem Herzinfarkt. Als der Vater der auserwählten Helen Clark erfährt, sie werde einen Juden heiraten, erliegt er vor Schreck einer Lähmung. Fortan und beinahe bis zum Ende des Romans sitzt dieser Mann in Form eines Hakenkreuzes reglos auf seinem Stuhl. Als Christine, die Tochter von Helen Clark und Samuel Schwartz, zur Welt kommt, ist sie einerseits schwarz, andererseits weiß und jüdisch, und die Eltern sind bald so zerstritten, dass sie sich trennen. Der Vater verlässt die Familie. Allerdings lässt er eine Liste mit merkwürdigen Hinweise zurück, die der Tochter Christine, sobald sie sechzehn ist, dabei helfen sollen, ihn zu finden.
Als Kind bekommt Christine den Spitznamen Oreo. Oreo, so heißen auch die beliebten amerikanischen Schokokekse mit Creméfüllung. In den USA ist dieser Name eine diskriminierende Bezeichnung für Schwarze, die es vermeintlich ins weiße Establishment geschafft haben. Frances Dolores Ross ist selbst Tochter einer schwarzen Mutter und eines jüdischen Vaters. Sie wird die Strategie der Anverwandlung solcher Diffamierungen gekannt haben, wie sie sich im Spitznamen ihrer Hauptfigur ausdrückt. Benutze die abfällige Bezeichnung und besetze sie positiv. Eine solche Positivbesetzung diente mehr oder weniger erfolgreich auch dazu, hegemoniale Machtverhältnisse zu entschleiern.
Stigmatisierung ins Aberwitzige
In ihrem Roman "Oreo" treibt Fran Ross bereits 1974 rassistische, sexistische und antisemitische Stigmatisierungen ins Aberwitzige. Davon zeugt allein schon die Geschichte, wie Christine zu ihrem Spitznamen kommt: Ihrer schwarzer Großmutter erscheint im Traum der Name Pirol. Mithilfe eines Nachschlagewerks leitet die Großmutter das Wort Oriole ab. Und im Kauderwelsch ihres südstaatengefärbten Zungenschlages klingt Oriole fast schon wie Oreo, zumal das Wort der vorzüglichen Köchin und unersättlichen Esserin, die sie ist, Appetit auf Kekse macht. Mit der Farbe der Haut hat das bei Fran Ross nur insofern noch zu tun, als es zeigt, wie wenig stabil diese und andere Identitätszuschreibungen sind. Nichts ist eindeutig in diesem sprachtrunkenen Buch und nicht von ungefähr heißt der jüdische Teil von Christines Familie ausgerechnet Schwartz.
"Vom jüdischen Teil der Familie hatte Christine die krausen Haare und die zarte dunkle Haut (etwa Farbtyp 7, empfindlich) geerbt, vom schwarzen die scharfen Züge, den Rhythmus und nochmal zarte Haut (ja, sie war in jeder Beziehung dünnhäutig). Zwei Jahre nach dem Finale dieses Buches wird sie zum Idealbild sämtlicher sagen-und folkloreumwobenen Schönheiten gereift sein – egal, welche Nationalität, welche ethnische Zugehörigkeit; was immer die jeweils für sich als schönes Gesicht und schöne Figur empfinden, heraus käme Christine, Liebchen."
Sprachliche Gewalt und gewaltige Sprache
Obendrein ist Christine, alias Oreo, zugleich Theseus, Held der griechischen Sage, allerdings im weiblichen Gewand. Wie Theseus geht Oreo auf Vatersuche. Um dem Geheimnis ihrer Geburt auf die Spur zu kommen, macht sie sich als Teenager auf den Weg von Philadelphia nach New York. Und wie Theseus begegnet sie allerlei merkwürdigem Personal, das ihr zuweilen an den Kragen will. Da ist der Taschendieb Perry, dem der Keulenschwinger Periphetes aus der griechischen Mythologie Modell gestanden hat und dem sie nicht die Keule, sondern den zur Waffe umfunktionierten Spazierstock wegnimmt. Da ist der fiese Zuhälter Parnell, der Oreo zur Strafe dafür, dass sie ihm vor den Augen seiner Sexsklavinnen eins überbrät, seinen Gehilfen Kirk auf den Leib hetzt. Gegen den hyperpotenten, animalischen Kirk und den öligen Parnell wehrt sich Oreo mithilfe ihrer speziellen W.I.T.Z.-Kampfsporttechnik, kurz: WITZ.
"Noch immer hatte Parnell sie nicht angerührt. Er grapschte nach ihr wie ein Mann, der in einem Traum in Zeitlupe hinter einem perfiden lautlosen D-Zug herrennt… Oreo wich aus. Jetzt baute sie ihre Überlegenheit aus zu einem Kampfspiel, bei dem sie nur ein Ergebnis akzeptieren würde: Kein Tropfen Öl an Parnells Fingerkuppen durfte mit dem Salz ihres hauchdünnen Schweißfilms gewürzt werden. Die Mesuse flog, der BH osmotierte alle Feuchtigkeit..., während Oreo ihr WITZ-Repertoire abspulte: sarkastische Bumse von Kop bis Zeh, ein hochironischer Fuß im Mund, spöttische Wort-Kracks, tritweiser Schlagabtausch, pihkweise Satire – kurz die komplette Persiflage auf Parnell."
Geheimsprachen und kuriose Syntax
Hinter der Action verbirgt sich eine politische Aussage: Indem Fran Ross die Sprache, die ihr zur Verfügung steht, in einen wilden Tanz versetzt, verschiebt sie die körperliche Auseinandersetzung ins Sprachliche. Ihre Hauptfigur gewinnt den Kampf nicht mit Muskelkraft, sondern mit Satire und Persiflage. Körper und Sprache werden innerhalb eines Gewaltakts kurzgeschlossen, womit Fran Ross verdeutlich, wie Rassismus und Sexismus in der Sprache verankert sind. Strukturelle Gewalt ist immer auch eine Gewalt des Begrifflichen, das Ideen und Vorstellungen dafür liefert. Das Sprechen selbst ist ein Modus des Ein-und Ausschließens, hier wird entschieden, wer existiert und wer nicht, und damit ist das einfachste Reden bereits ein Mittel zur Machtausübung. Da wundert es kaum, dass sich keine der Figuren an korrektes Sprechen hält. Sie dehnen die Grenzen der Sprache.
Jede der Figuren hat einen anderen, oft komischen Sprachtick. Das kann die Wortwahl, die Aussprache oder sogar die Syntax betreffen: Oreos kleiner Bruder etwa erfindet eine Geheimsprache. Oreos Englisch erhält vom Jiddischen seinen besonderen Sound. Und der elfjährige Scott Scott, dem Oreo auf ihrer Reise nach New York begegnet, spricht in Erwartung eines zukünftigen Schauspielerlebens Englisch mit französischer Syntax. Die Sprache selbst wird so zu einer Figur des Romans. Fran Ross beherrscht die große Kunst, sie bis an die Grenzen des Verständlichen zu treiben, um das Individuelle, das Einzigartige hinter Stereotypen und Mustern sichtbar zu machen.
Preiswürdige Übersetzung
Dass sich die zahllosen Sprachspiele, Lautmalereien und der Wortfindungsreichtum ins Deutsche übertragen und sich die sprachliche Lust und große Komik des Textes übermitteln, ist eine preiswürdige, grandiose Leistung der Übersetzerin Pieke Biermann. Sie steht an Witz, Sprachgefühl und Erfindungsgabe ihrer Autorin in nichts nach.
"Mit zweiunddreißig hatte Louise graue Haare von der ständigen Anstrengung, etwas zu verstehen, wenn Mann und Kind die albernen Dialoge führten, die sie manchmal führten. 'Du fardrejst mir so den kop mit dem Geklimper, Honeychile', sagte der Vater. 'Kwetsch, kwetsch', flüsterte die Tochter. Sie ließ sich ihre 'guten' Haare rotbraun färben und genoss, wie wohltuend sie sich in Farbe und Struktur vom stumpfen schwarzen Gekrissel der Nachbarinnen unterschieden, während sie wartete, dass sie an die Reihe kam, und zusah, wie die Schönheitskünstlerinnen die Krausköpfe der anderen mit dem heißen Glätteisen traktierten. 'Ich danke dir, Vater', betete sie dann, 'für die Grauhaare, wo du mir gegeb'm has' und ers' rech' für dass an're Leute wiss'n, wie ich die nich ha'm muss. 'ch würd ja blöd mit zwei ö aussehn, wenn ich mit Graukopf 'ier rumlaufe, bei mei'm Alter."
Schlehmile und weibliche Ganoven
Man könnte dem Buch eine gewisse Überorchestrierung vorwerfen. So viel genialische Fantasie, ein so immenser Anspielungsreichtum drohen das gewöhnliche Leseflussbett zu überschwemmen, die Aufnahmefähigkeit zu überfordern. Aber auch davon handelt dieser Roman, der die Grenzen des Erzählten und Erzählbaren weitet: der Abschied von eingefahrenen Mustern bedeutet immer erst mal Überforderung, bevor neue Einsichten entstehen können.
Seit "Oreo" im Jahr 2000 wieder entdeckt wurde, gilt er als einer der wichtigsten satirischen Beiträge zur schwarzen Literatur, wie aus dem erhellenden Nachwort von Max Czollek zu erfahren ist. Czollek sieht Fran Ross auch in einer Tradition jüdischen Erzählens, ihre Figuren in der Nachfolge der Schlehmils oder der Ganoven Isaak Babels. Feministisch ist dieser Text allemal: sein lautes anarchisches Lachen übertönt die Echoräume der männlich dominierten Literaturgeschichte und mit dem weiblichen Theseus Oreo mischt eine herausragende und herausfordernde Hauptfigur die Ruhe dieser heiligen Hallen für immer auf.
Fran Ross "Oreo"
aus dem amerikanischen Englisch von Pieke Biermann
dtv, München, 289 Seiten, 22 Euro