Freitag, 03. Mai 2024

Archiv

Preis für beste inklusive Schulen
Netzwerk für alle Schüler

Der Schulcampus Rostock-Evershagen ist eine kooperative Gesamtschule, also eine regionale Schule mit Gymnasialteil. Sie erhält den Jakob-Muth-Preis für Inklusion. Die Jury überzeugte die Schule mit ihrem ganzheitlichen Ansatz für alle Schüler und einem großen Netzwerk an Experten.

Von Lenore Lötsch | 21.06.2017
    Ein Schulkind steht vor einer Tafel, auf der das Wort "Inklusion" geschrieben steht.
    Eine Schule in Rostock wurde als beste inklusive Schule geehrt. (picture alliance / dpa)
    Ausgerechnet eine Mauer steht auf dem Schulhof des Schulcampus Evershagen. Doch wer es symbolisch mag, der sieht auf den ersten Blick: Die aufrecht stehenden bunten Mauerstücke sind durchlässig: Mal sind es schmale Rechtecke, mal quadratische Fensteröffnungen, auf die Zehntklässler ihre Taschen stapeln. Die Sonderpädagogin Andrea Krause spricht einen Neuntklässler an.
    - "Jakob-Muth-Preis? Du trittst auf?"
    - "Ja! Ich performe mit einem Kumpel einen selbst geschriebenen Track halt über uns, Multikulti-Lifestyle so was."
    - "Richtiger Rapper."
    Dass die Schule den Jakob-Muth-Preis bekommt, hat sich schnell herumgesprochen:
    "Ich weiß eins: Wir sind zum ersten Mal eine Schule in Mecklenburg Vorpommern, und das ist schon krass."
    Andrea Krause geht schnurstracks auf eine Achtklässlerin zu. Die schwarzen Jackenärmel hat das Mädchen hochgeschoben, auf den Unterarmen sind unzählige Narben vom sogenannten Ritzen. Die beiden umarmen sich:
    "Ja es läuft, ich kann sagen: Ich bin stolz auf mich."
    Die Sonderpädagogin arbeitet seit sechs Jahren an dieser Schule. Aber sie weiß: Morgen kann alles wieder anders sein, die nächste große Krise ausbrechen. Und dann muss sie schnell reagieren und oft auch improvisieren. So wie in einem aktuellen Fall, der sie in dieser Woche überrascht hat:
    "Von einem Kind, was gerade aus dem Jugendstrafvollzug hier auf der Matte steht und sagt: Meine Auflage ist jeden Tag Schulbesuch. Kann das Kind gar nicht leisten im großen Gefüge, hat auch keine Hilfen. Wir haben keine Stunden dafür, ist alles noch nicht erledigt, aber sie steht hier."
    Plattenbauten prägen das Stadtbild im Norden Rostocks, auch in Evershagen.
    "Die soziale Struktur ist hier sehr durchwachsen, natürlich vom Hartz 4 Empfänger, mitunter auch in der zweiten Generation. Bis hin zu Kleinunternehmern, Professoren – alles vorhanden."
    Sagt Schulleiter Gerald Tuschner. Eine Schule ganz in der Nähe hat vor einiger Zeit einen Brandbrief ans Bildungsministerium in Schwerin geschrieben: Die Kollegen verzweifelten an zu vielen Schülern mit Förderbedarf und zu wenig Personal.
    "Ok, ich kenne den Fall. Von der Sache her ist der Unterschied, ob man sagt: Die Kinder sind da und ich ertrage sie. Oder sagt: Die Kinder sind da, wie gestalte ich den Alltag mit ihnen."
    Netzwerkgedanke als zentrales Element
    Und so ist die Philosophie an seiner Schule eben nicht: Alles dreht sich um die Schüler, die eine Diagnose haben, denn das sind maximal 70 der 935 Schüler. Und die Sonderpädagogin Andrea Krause fühlt sich eben nicht nur für die 70 verantwortlich: Sie hat in den letzten drei Jahren als Teil der Schulleitung daran gearbeitet, die Prävention zu stärken.
    "Jedes Kind ist immer dann wichtig, wenn es mich gerade braucht und nicht dann, wenn das Schulamt ein Etikett ausgibt. Denn das ist ja lange vorher auch schon auffällig, bevor man überhaupt zu dem Stand kommt, eine Diagnostik zu machen. Jedes Kind kann vom Leben auch mal überrumpelt werden. Und das ist unsere Haltung und unser Denken: Wir leben das Leben mit den Kindern, egal, wie es spielt."
    Das brauchte Überzeugungsarbeit, auch beim Schulamt: Der Schulcampus Evershagen ist die einzige Schule in Rostock, in der dauerhaft eine Sonderpädagogin arbeitet. Andrea Krause schafft aber auch nicht alles im Alleingang.
    "Ich habe hier eine Vielfältigkeit vor Augen. Ich habe für mich sofort entschieden: Ich brauche ein Netzwerk. Sehbehinderung habe ich nicht studiert, aber da kenne ich jemanden, der mich updatet."
    Und so wird mit dem Jakob-Muth-Preis 2017 auch dieses Netzwerk aus Ärzten, Therapeuten und Jugendamtsmitarbeitern ausgezeichnet, das der Schulleiter, die Sonderpädagogin und der Schulsozialarbeiter aufgebaut haben. Und doch: Schulleiter Gerald Tuschner sieht es mit Sorge, dass Mecklenburg-Vorpommerns Bildungsministerin Birgit Hesse kürzlich ankündigte, sie bevorzuge die Inklusion in kleinen Schritten.
    Bildungspolitik bereitet Bauchschmerzen
    "Wie sieht es aus mit den Förderzentren? Wann werden wirklich die Kinder in der Regelschule unterrichtet? Wir haben ein bisschen Bauchschmerzen damit, dass man davon spricht, Förderklassen an Regelschulen einzurichten - das ist ja dann nur Integration und keine Inklusion. Was einfach viel schöner wäre: Die Schulen einfach machen lassen."
    Es gibt noch viele - auch bauliche - Hindernisse auf dem Schulcampus in Evershagen. Und nicht alle sind so löchrig wie die Mauer auf dem Schulhof. Zu schwere Rauchschutztüren, fehlende Treppengeländer. Schulbegleiterin Tina Ortzel:
    "Zum Beispiel fehlt der Aufzug in Haus 3. Und dadurch, dass das Kollegium halt bereit ist, mit anzufassen und einfach mal sagt, komm ich helfe: Doch, wir leben Inklusion – trotz der Probleme."