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Prekäre Figuren - Politische Umbrüche

Wie entstehen eigentlich politische Umbrüche? Immer sind da natürlich Menschen, die diese Umbrüche herbeiführen. Oft genug sind es Menschen oder Menschengruppen, die außerhalb der etablierten gesellschaftlichen Ordnung stehen. "Prekäre Figuren" werden sie von den Soziologen genannt.

Von Ursula Biermann | 03.12.2009
    "Die Tagung geht von der Grundidee aus, dass soziale Ordnungsbildung oder soziale Strukturen immer dazu führt, dass es innerhalb oder nach außen hin Randlagen gibt, dass es Zonen des dazwischen, dass es Zonen des Übergangs gibt und in diesen Zonen des dazwischen und des Übergangs suchen wir nach so genannten prekären Positionen, nach prekären Figuren, wie wir das nennen. Das ist die Grundidee der Tagung."

    Mit prekären Figuren, von denen Professor Rudolf Schlögl von der Universität Konstanz spricht, sind Personen oder Gruppen gemeint, die vermeintlich außerhalb der Gesellschaft stehen, sei es sozial, sei es intellektuell. Es sind diejenigen, die in bestimmten Momenten oder Zeiten die Gesellschaft vorantreiben möchten, die politische Umbrüche ermöglichen und eine Definition dessen vornehmen, was neu ist.
    sehr unterschiedliche prekäre Figuren wurden auf der Tagung vorgestellt, sogar Vorträge über Piraten, Vorträge über Freidenker, über Propheten aber auch über Revolutionäre gab es. Die Wissenschaftler erforschen, unter welchen Bedingungen solche prekären Figuren in verschiedenen historischen Situationen eine besondere Rolle übernehmen.

    "Das sind ganz unterschiedliche Konstellationen denkbar.
    Es gibt solche prekären Figuren, die eher als Vermittler wirken. Es gibt prekäre Figuren, die historische Ordnungszusammenhänge in Bewegung setzen, wie zum Beispiel Revolutionäre, oder auch Propheten wirken in ähnlicher Weise, oder es gibt auch prekäre Figuren, die gewissermaßen aus Ordnungszusammenhängen herausfallen, die nicht mehr gesellschaftlich relevant sind. Es gibt prekäre Figuren, die in hohem Maße gesellschaftlich wirksam werden – also das Paradebeispiel ist der Revolutionär, der Erfolgreiche.
    Prekarität kann auch dazu führen, dass man die gesellschaftliche Wirksamkeit und Bedeutung verliert. Das beste Beispiel dafür ist der 'Adel am Ende des Ancien Regimes, also am Ende der alteuropäischen Ordnung, der gewissermaßen aus seiner zentralen gesellschaftlichen Position, aus seiner Herrschaftsposition vertrieben wird, und in eine Randlage gerät. Und wenn Sie in die Gegenwartsgesellschaft schauen, dann entdecken sie da auch die Ausgegrenzten, die Hartz IV – Empfänger, die an kultureller, die an sozialer Bedeutung gegen null tendieren, die keine gesellschaftliche Wirkung, keine soziale Wirkung mehr entfalten können, auch das ist Prekarität."

    Alte Eliten zerfallen, neue entstehen. Auch in diesen Gruppen gibt es Eliten. Auf solche prekären Eliten hat sich Albrecht Koschorke, Professor für Deutsche Literaturwissenschaften an der Universität Konstanz spezialisiert. Es sind Gruppen, die in bestimmten sozialen Spannungslagen die Meinungsführerschaft übernehmen und Radikalisierungsprozesse auslösen. Koschorke hält sie für blockierte Eliten, da ihnen der Zugang zu exekutiven Ämtern, den Positionen, versperrt ist. Gleichzeitig haben sie aber die Möglichkeit mit dem Staatsapparat und den Massenmedien Kontakt zu halten, was entscheidend ist, weil sie ohne diese Infrastruktur ihre Ideen nicht weiter geben könnten. Albrecht Koschorke:

    "Es gibt auch ein bestimmtes Maß von Verrücktheit in diesen Gruppen und eine Verrücktheit die später dann sozial normalisiert wird und die dann zu dem gehört, was eine neue soziale Ordnung sein kann.
    Beispiele wären die französischen Revolutionäre der 2., 3. Generation. Das waren solche blockierten Eliten, die keine Aufstiegschancen hatten und die dann wirklich die französische Revolution in die Radikalisierung getrieben haben.
    Aktuelle Beispiele sind in Afrika Warlords, die oft aus sogenannten Campus-Bruderschaften hervorgehen und ihre Milizen beruhen auf einem Kult, den man Campus-Cult nennt. Sie haben Zugang zu Bildungsgütern aber sie haben oft nur unvollständige Studien gemacht und basteln sich dann Ideologien zusammen, teilweise sehr militante Ideologien."

    ... die nicht selten zu endlosen Bürgerkriegen führen.

    Prekäre Figuren finden sich aber auch unter Künstlern und auch sie können die Gesellschaft beeinflussen. Dr. Thomas Mergel, Historiker an der Humboldt-Universität zu Berlin hat sich mit prekären Figuren der Künstlerszene in Berlin am Prenzlauer Berg befasst.

    "Die Prenzlauer Berg-Szene das waren Künstler, die sozusagen Alternative Kultur aufbauten, immer unter den wachen Augen der Stasi und die keine politische Opposition betrieben in dem sinn, dass sie politische Kritik ausformulierten, sondern die andere künstlerische Formen suchten und das war der Stasi, das war dem Staat suspekt, denn diese Kunst verstand er nicht. Und indem er sie nicht verstand, waren das sozusagen andere. Man könnte annehmen, dass diese Szene einfach in Ruhe gelassen werden wollte von diesem Staat, von seiner Ordentlichkeit, dass sie ihr eigenes Ding machen wollten, aber der Staat nahm dies natürlich als Abweichung wahr und hat sie mit einer Mischung aus Wohlverhalten, also sie wurden relativ gut behandelt einerseits, aber andererseits auch einer dichten Überwachung überzogen. Viele dieser Künstler vom Prenzlauer Berg waren selbst Stasi-Agenten. Aber dadurch war das so eine Art Sauerteig. Das hat sozusagen gewirkt, wie eben auch die Kreuzberger Szene gewirkt hat, mitten in der Großstadt, mitten in der Metropole lebt hier ein Milieu, das völlig anders lebt und das genau durch dieses Anderssein eine Faszination auf die andern ausübt und den andern eben sagt, was ist hier eigentlich normal, und was ist unnormal."

    Und ihr Einfluss auf die Gesellschaft? Der entstand durch ihr Andersleben. Sie haben Neues ausprobiert, Projekte entwickelt, wie man gemeinsam leben könnte. Sie haben ein Haus renoviert das heißt wieder hergestellt, wurden vom Hausbesetzer zum Hausbesitzer. Das war mehr als nur eine Signalwirkung denn sie haben den anderen gezeigt, so wie ihr lebt, das ist nur eine Möglichkeit. Man kann auch anders leben.