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Prekarier aller Länder vereinigt euch

Das Prekariat - so wird eine neue soziale Gruppe genannt, die nicht mehr auf sichere Arbeits- und Lebensbedingungen bauen kann. Entstanden ist die neue Bezeichnung im Zuge der Diskussionen über Hartz 4, Minijobs und Ich-AGs. Löst das Prekariat den Klassenbegriff des Proletariats ab? Lässt sich mittels des Begriffs eine neue soziale Kraft generieren? Diesen Fragen geht ein Konstanzer Forschungsprojekt nach.

Von Martin Hubert | 03.07.2008
    Es gibt Zahlen, die nachdenklich machen: Zwischen den Jahren 2003 und 2007 hat sich die Anzahl der Zeitarbeiter in Deutschland verdoppelt. Fast jeder fünfte Erwerbstätige lebt heute nach DGB-Angaben von einem Minijob. Und über 400.000 Vollzeittätige sind zusätzlich auf Hartz-4-Gelder angewiesen. Eine Antwort auf diese Zahlen heißt: Es gibt eine neue soziale Gruppe von Menschen, die nicht mehr auf sichere Arbeits- und Lebensbedingungen bauen kann - das Prekariat.

    Nach einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2006 sollen etwa sechseinhalb Millionen Menschen dazu gehören. So öffentlichkeitswirksam das Wort "Prekariat" jedoch inzwischen geworden ist, meint Patrick Eiden von der Universität Konstanz, so unklar ist, wie es dazu kam.
    "Es ist ja interessant, wenn Begriffe plötzlich prominent werden und man fragt sich: Wo kommen die eigentlich her, dann erinnert man sich plötzlich an Talkshows, in die man reingezappt hat, wo er plötzlich auftauchte, oder er taucht auf Flugblättern auf. Wo dieser Begriff jetzt tatsächlich als 'Selbstbenennung' lanciert wird, da könnte ich jetzt gar keinen Ursprung benennen, das ist eben so ein Debattenbegriff."

    Als öffentlicher Begriff ist das "Prekariat" also ziemlich neu - von der Sache her aber steht es in einer langen Tradition. Gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern geht Patrick Eiden an der Universität Konstanz diesen Spuren nach. In einem Teilprojekt des Konstanzer Exzellenzclusters "Kulturelle Ungleichheit von Integration" widmet er sich der Geschichte und der Funktion sozialer Kampfbegriffe vom 19. Jahrhundert bis heute.

    Das Projekt setzt mit dem Marxschen Klassenkonzept ein. Auf der einen Seite stehen die Kapitalisten, die über die Mittel zur ökonomischen Produktion verfügen. Auf der anderen Seite stehen die Proletarier, die nur über ihre Arbeitskraft verfügen und den Schwankungen des Marktes ohnmächtig ausgeliefert sind. Sie verdienen also oft kaum genug, um ihre Arbeitskraft zu reproduzieren. Patrick Eiden sieht durchaus Kontinuitäten zwischen dem Begriff der proletarischen Klasse und heute.

    "Also unser Zugriff ist erst mal, dass wir tatsächlich eine historische Perspektive auf den Begriff gewinnen wollen, und gleichzeitig ist sozusagen eine Grundintention der Arbeit, dass der Begriff der Klasse zwar - wenn man so will - offiziell abgeschrieben ist, also niemand führt ihn mehr im Munde, aber dass er in gewisser Weise das Dasein eines Untoten führt. Es ist so, dass die Sachverhalte, die mal unter Klasse adressiert wurden, dass die immer wieder auftauchen, und dass sie dann immer wieder unter verschiedensten Benennungen wieder auftauchen, und man fast wieder so eine Art Vermeidungszwang bemerkt, dass man eben nicht den Begriff der Klasse verwendet, obwohl es irgendwie offensichtlich ist, dass er im Hintergrund da zumindest spukt."

    Man spricht zum Beispiel vom "akademischen Proletariat", von der "neuen Unterschicht" oder von den "Exkludierten" - und neuerdings eben vom "Prekariat". Inzwischen gibt es auch schon Versuche, das Prekariat mit Hilfe herkömmlicher sozialwissenschaftlicher Kategorien zu klassifizieren. In manchen Studien wurde es etwa als ein soziales Milieu beschrieben, das für gemeinsame Werthaltungen und Lebensformen von Menschen steht.

    "Und da war das Prekariat gleichgesetzt mit dem, was man sonst auch die Abgehängten nennt. Also einfach Leute, die dadurch, dass sie über keinen Bildungsstandard verfügen, weil ihnen womöglich der Zugang zur Bildung von vornherein verbaut war, sowieso ohnehin überhaupt keine Chance haben, irgendwie Zugang zu einem Arbeitsmarkt zu finden, auf dem man dann irgendwann einen garantierten Job - womöglich mit Rentenversicherung - findet. In dieser Milieuklassifikation wurde es ganz auf die abgestellt."

    Das Problem dieser Zuschreibungen ist jedoch, dass sie zu eng sind. Denn es gibt bei den prekär Beschäftigten eben auch Menschen mit ganz normaler Qualifikation, die aus Altersgründen vor dem sozialen Aus stehen, oder weil sie wegrationalisiert wurden. Und es gibt die hochgebildeten Akademiker, die keineswegs mehr in eine gesicherte Zukunft blicken können. Zwar meint Patrick Eiden, dass es ein verwegenes Unterfangen sei, diese Gruppen alle unter einen soziologischen Begriff bringen zu wollen.

    " Es entspricht aber trotzdem, denke ich, auch wieder einer Erfahrung, einer Lebenserfahrung, dass es so etwas wie ein Einheit gibt, die man auch nicht von der Hand weisen kann. Also gerade im Bereich, wenn man an der Universität arbeitet, da ist man mit Arbeitsbedingungen konfrontiert. Im Moment denkt man noch, man arbeitet noch an einer Exzellenzuniversität, und in drei Jahren kann es sein, dass man doch wieder Harz4 bezieht und dann auch mit denselben Leuten auf dem Flur sitzt, die nicht irgendwie 20 Semester studiert haben und eine großartige Promotion hingelegt haben. Und diese Erfahrung, dass es dieses Kippen gibt - ich denke, dass der Begriff des Prekariats auch ein Versuch ist, dieses Erfahrung wiederum in einem Begriff von Klasse letztendlich auszudrücken, um da auch eine Gemeinsamkeit von Erfahrung zu erfassen und ansprechbar zu machen. Das ist ein mobilisierender Begriff, das ist ein Begriff, der eine Einheit herstellen soll, die so noch nicht da ist."

    Begriffe wie Proletariat oder Prekariat, so die These der Konstanzer Forscher, drücken immer auch ein kulturelles Bedürfnis aus, das moderne Gesellschaften notwendigerweise erzeugen. Da es die Erfahrung von sozialer Ungleichheit gibt, muss diese auf einen Begriff gebracht werden, um den an den Rand Gedrängten zumindest eine kollektive Identität zu verschaffen. Beim Proletariat war es der optimistische Versuch, es als revolutionäres Subjekt einer klassenlosen Gesellschaft zu entwerfen. Ähnliche utopische Umdeutungen sind beim allzu heterogenen Prekariat nur schwer denkbar, trotzdem gibt es Versuche, den Begriff auch positiv aufzuladen.

    "Einerseits ist das immer auch noch so ein bisschen ein Ehrentitel, dass man nicht in diesen alten - wenn man so will – 'langweiligen' Arbeitsverhältnissen steckt, es hat immer noch so einen boheme-istischen Anklang, zumindest wenn man auf der Ebene der Bildungselite spricht. Der Begriff wurde dann auch sehr gezielt eingesetzt, um genau auch wieder diese Unterschicht anzusprechen oder diese Abgehängten, und changiert zwischen beiden Polen und hat natürlich auch diesen Aspekt des 'Freien', also im doppelten Marxschen Sinn: Man ist freigesetzt von allen Mitteln zur Reproduktion und man ist aber auch frei, zu tun, was man will."

    Wie weit das politisch und soziologisch trägt, ist bis jetzt noch nicht abzusehen. Für Patrick Eiden hat der Begriff des Prekariats aber heute schon einen Zweck erfüllt: Er hat einen neuen sozialen Tatbestand benannt und ist damit so etwas wie ein historischer Warn-Begriff.

    "Er hat auf jeden Fall eine Debatte, die auf sehr alten Gleisen lief, glaub ich, in Bewegung gebracht, bis man den Begriff vielleicht wieder verwirft hat er auf jeden Fall so einen verwirrenden Wert, der auch eingefahrene Wahrnehmungsmuster dann auch wieder durcheinander gebracht hat. Und spätesten dann, wenn wirklich versucht wird, ihn als soziologischen Begriff festzuschreiben und dann auch glaube ich wirklich den letzten Rest von Charme verliert - dann wird man ihn womöglich auch wieder fallen lassen müssen."