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Premiere: "Die Attentäterin" in München
Zerbombte Gewissheiten des Publikums

Mit seinem 2005 in Algerien erschienenen Roman "Die Attentäterin" schaffte Mohammed Moulessehoul, der unter dem Pseudonym Yasmina Khadra schrieb, eine literarische Sensation. Jetzt wurde es an den Münchner Kammerspielen für die Bühne adaptiert.

Von Rosemarie Bölts | 10.03.2018
    Mohammed Moulessehoul vor einer Bücherwand
    Der algerische Schriftsteller Mohammed Moulessehoul schreibt unter dem weiblichen Pseudonym Yasmina Khadra (picture alliance / EFE / Marta Perez)
    Schon beim Titel "Die Attentäterin" weiß man doch, zumal im deutschen Theaterpublikum, sofort Bescheid. Gerade im Nahostkonflikt, den das Stück spiegelt, sind die Rollen eindeutig verteilt. Keine Frage, Gut und Böse ist in den Köpfen mitunter sublim aufgeteilt, auf die Religionen wie auf die Geschlechter, auf die Nationen wie auf die DNA-Herkunft. Zudem erscheint die Inszenierung des gleichnamigen Romans auf der Bühne der Münchner Kammerspiele so beiläufig, agieren doch die Schauspieler so alltagstauglich, dass dem Zuschauer eigentlich keine Überraschungen drohen sollten. Ein großer Irrtum. Nichts liegt dem Autor Yasmina Khadra ferner und noch weniger dem Regisseur Amir Reza Koohestani, als das Publikum in seiner Selbstgewissheit zu belassen.
    Weibliche Attentäter sind eher selten
    Amin, arabischer Chirurg am Krankenhaus in Tel Aviv, versteht die Welt nicht mehr. Und mit ihm die Zuschauer. Der palästinensische Arzt mit israelischer Staatsbürgerschaft hat sich doch voll integriert. Kurz davor, Klinikdirektor zu werden, glücklich verheiratet, im besseren Stadtviertel zuhause, mit den besseren jüdischen Kreisen befreundet. Wenn wieder einmal palästinensische Bomben gezündet werden, steht er bis zur Erschöpfung am OP-Tisch, um die meist jüdischen Menschen wieder zusammenzuflicken. Tut der charmante Araber nicht alles, um ein guter israelischer Staatsbürger zu sein? Und jetzt soll ausgerechnet seine schöne, sanfte, liebevolle Frau die "Attentäterin" sein, die sich im Einkaufszentrum, mitten in einem Kindergeburtstag in die Luft gesprengt hat?
    Eine hübsche Terroristin mit langen Haaren
    Der Tenor der Buchvorlage lautet, und das hat der Regisseur kongenial auf der Theaterbühne umgesetzt, es gibt keine Gewissheiten. Kein Recht oder Unrecht. Dafür kommen die Protagonisten, die mit ihrer Geschichte so fern sind, durch ihre übergroßen Video-Porträts den Zuschauern im doppelten Sinn ganz nah. Und noch ein genialer Regieeinfall, der das Bild der Selbstmordattentäterin entdämonisiert und die Kategorien von Gut und Böse verlässt. Die Tote tritt nach dem Attentat als Schauspielerin auf, spricht mit Amin, singt auf Arabisch, erzählt von sich, sie zeigt ihr menschliches Gesicht, präsentiert ihren abgefallenen Kopf auf dem OP-Tisch, auch wieder im doppelten Sinn.
    Streng inszeniert wird die Verstrickung und Doppeldeutigkeit, die allen und allem innewohnen. Auf dem gleich bleibenden Bühnenort unterscheidet nur das Licht, ob man sich steril und grau in der Kantine des Krankenhauses befindet oder dunkel und löchrig im Haus im palästinensischen Heimatdorf. Jeder Schauspieler hat eine Doppelrolle, spielt sowohl im israelischen als auch im palästinensischen Teil. Nur die beiden Hauptdarsteller sind miteinander verstrickt.
    Bewegungstanz der Stimmen
    Alles ist verdreht, kein Ende, keine Lösung ist in Sicht. Und wo ist eigentlich der Anfang? Wo das Motiv? Entwurzelung auf der einen, Angst auf der anderen Seite. Ein Kreislauf, aus dem es kein Entrinnen gibt. Noch nicht einmal die Bombe oder der Raketeneinschlag sorgen für Katharsis und Neuanfang. Es knallt nur, gebiert neues Leid, neuen Hass, neue Verzweiflung. Aus der Romanvorlage wird auf der Bühne ein erhellend beklemmendes Verwirrstück, das den ganzen Irrsinn der Nahost-Situation erfahrbar macht, ohne zu werten und zu verurteilen. Mit allen Sinnen wird der Zuschauer in den Sog des Unausweichlichen hineingezogen. Ganz unspektakulär gespielt und ausgefeilt inszeniert. Überwältigend beeindruckend.