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Preziosen außerhalb des Wettbewerbs

Nichts wirklich packendes bei der Berlinale: Das ist Konsens. Überraschungen, beeindruckendes, das gab es außerhalb des Wettbewerbs, wie so oft: im "Forum" und Panorama".

Von Rüdiger Suchsland |
    Ein Maskenspiel, ein Jahrmarkt, eine Nervenklinik, religiöser Wahn und betäubende Musik - nein, dies ist nicht das Kabinett des Doktor Caligari, aber auch der japanische Regisseur Sono Sion stürzt wie seinerzeit der deutsche Stummfilmklassiker in seinem atemberaubenden Film "Love Exposure" seine Zuschauer in einen somnambulen Taumel.

    Dem Regisseur ist ein intensives Drama gelungen, das in immer origineller und oft genug genialer Weise Formsprachen des Kinos, Motive aus Oper, Pop und Filmgeschichte und die großen Gefühle einer romantischen Liebesgeschichte sampelt. Große Kunst, ein kurzweiliges, kluges und souveränes Nachdenken über Liebe, Religion und die Natur des Menschen - ein opulentes Zuschauervergnügen, das das "Internationale Forum" die bedeutendste Nebensektion der Berlinale eröffnete, und heute bereits mit zwei ersten Preisen, darunter dem des internationalen Kritikerverbandes FIPRESCI, ausgezeichnet wurde, und bereits einen deutschen Verleih gefunden hat.

    Wenn morgen Abend in Berlin der Goldene Bär verliehen wird, dann konzentriert sich für einen Augenblick wieder alles auf den internationalen Wettbewerb der Berlinale, auf Gewinner und Verlierer, auf Preise und Jurys, und auf die Stars auf dem Roten Teppich.

    Aber der Wettbewerb, da sind sich deutsche und internationale Beobachter einig, ist auch diesem Jahr langweilig und schwach. "Mau" ist noch das freundlichste Wort, das man hören kann. Die echten Entdeckungen und Überraschungen der Berlinale, diese Beobachtung ist nicht neu, galt aber 2009 mehr denn je, kann man in den Nebensektionen machen, im "Forum" und im "Panorama". Wo sich das Forum der Erneuerung des Kinos, der Suche nach unbekannten Filmsprachen, der Entdeckung von Regionen verschrieben hat, wirkt das "Panorama", das in diesem Jahr sein 30. Bestehen auch mit einer Schau früherer Beiträge feiert, auf den ersten Blick konventioneller. Denn die Namen hier sind oft bekannt: Der Engländer Michael Winterbottom ist vertreten, die Französinnen Catherine Breillat und Julie Delpy, aber auch die Koreanerin Sung Hyung-Cho, die vor zwei Jahren mit der Provinz-Doku "Full Metal Village" einen Überraschungserfolg feierte. In ihrem neuen Film "Endstation der Sehnsüchte" begleitet sie Koreanerinnen, die Jahrzehnte in Deutschland lebten, bei ihrer Heimreise nach Korea. Winterbottom, der 2003 hier noch den Goldenen Bär gewann, hat mit "The Shock Doctrine" das gleichnamige Buch der Globalisierungskritikerin Naomi Klein verfilmt: Deren starke Thesen unterstreicht er mit starken Bildern weltweiter Ausbeutung. Mag die Botschaft vom moralischen wie ökonomischen Bankrott des neoliberalen Deregulierungswahns auch nicht neu sein, so gelingt Winterbottom aber in "The Shock Doctrine" genau das, was man im angeblich politischen Wettbewerb so schmerzlich vermisst: Ein Film der nicht moralisiert, sondern sich auf die Realität einlässt und trotzdem Verantwortliche benennt, und Lösungswege skizziert, der in diesem Sinn wirklich politisch ist.

    Überraschend ähnlich sind sich die neuen Filme von Catherine Breillat und Julie Delpy: Breillats "Barbe Bleue", eine Meditation über den "Blaubart"-Mythos und "La Comtesse" über die berüchtigte Gräfin Bathory, sind zwei Kostümfilme, die, angesiedelt in der frühen Neuzeit, von starken Karrierefrauen erzählen, die zum Opfer in der Männerwelt werden. In beiden Fällen sind das auch subtile Selbstreflexionen zweier brillanter Autorenfilmerinnen.

    Auf ganz andere und dann in den Konsequenzen doch verwandte Weise erzählt "Hayat Var" des Türken Reha Erdem vom Dasein als Frau in der Männerwelt. Erdem verfolgt den Alltag der 14-jährigen Hayat. Genau auf der Schwelle zwischen Mädchen und Frau erlebt diese den Abschied von der Kindheit in Form erschreckender Zumutungen durch die Erwachsenenwelt. Am Rande von Istanbul lebt sie ein armes Leben, kaum behütet vom geschiedenen Vater, als Pflegerin des sterbenskrank bettlägerigen Großvaters. Von Mitschülern wird sie drangsaliert, von der den Schulinstitutionen als sozialschwache Outsiderin brutal beiseite geschoben - und so sexueller Gewalt und Alltagsnot umso offener ausgesetzt. Doch Regisseur Reha Erdem wendet seine zuerst pessimistisch anmutende Fabel mit ein paar Kunstgriffen in einem grandiosen Finale in einen Befreiungsakt, der an den fröhlichen Anarchismus Godards und der französischen Nouvelle Vague erinnert - solche Filme, die politischer sind, als das sogenannte politische Kino und stilistisch auf hohem Niveau, versöhnen wieder mit den Schwächen des Hauptprogramms. Weil man sie aus dem Wettbewerb verbannt, konzentrieren sich in diesem Jahr immer mehr Kinoliebhaber ganz auf die Berlinale-Nebenreihen Forum und Panorama.