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Priorisierung in der Medizin
Manuskript: Budget und Bauchgefühl

Die moderne Medizin kann große Erfolge vorweisen und das hat buchstäblich seinen Preis. So lebt ein Darmkrebskrebspatient heute dreimal so lange wie noch vor zehn Jahren. Die Kosten seiner Behandlung haben sich dabei mehr als verzehnfacht. Ähnlich die Herzmedizin: Immer mehr Patienten überleben Infarkte, müssen dann aber jahrelang teuer versorgt werden.

Von Thomas Liesen | 01.12.2013
    Manfred Wilhelm: "Wenn man unter so einem enormen Druck steht - die Anzahl der Patienten nimmt zu, die Anzahl der ärztlichen Kollegen nimmt ab - dann ist klar, wo gespart wird."
    Heiner Raspe: "Wir sind, glaube ich, noch nicht so weit, dass wir darüber offen sprechen, in der Politik ist das Thema weiter ein Tabuthema."
    Alena Buyx: "Jeder Tag... ich würde Millionen für jeden Tag bezahlen. Das ist eine vollkommen verständliche emotionale Reaktion. Und genau die macht es so schwer, diese Gespräche darüber zu führen, dass wir Grenzen ziehen müssen."
    Christina Limmroth: "Ganz schrecklich, ganz schrecklich. Und ich möchte hier nicht mehr arbeiten, wenn es hier in Deutschland dazu kommen sollte."
    Nikolaus Zinke: "Mein Wunsch ist das, was am optimalsten für mich ist, nicht, was das kostet. Wir sind der reichste Staat der Erde - und dann? Jeder Mensch ist gleich, oder nicht?"
    August 2010. Es ist in ungewöhnlich regenreicher Monat. Doch nicht nur das Wetter macht dem Maurer Nikolaus Zinke auf seinen Baustellen zu schaffen. Der gebürtige Kölner, der sein Leben lang nie krank feierte, bekommt auf einmal unerträgliche Rückenschmerzen.
    "Da bin ich zum Arzt und dann hat der mir eine Überweisung gegeben zum Orthopäden. Da bin ich aber dann gar nicht mehr hingekommen, weil ich dann, Freitagmorgens war das, direkt ab ins Krankenhaus, das war im August 2010 und dann hieß es: krebskrank."
    Die Diagnose: Multiples Myelom, Krebs des Knochenmarks. Die bösartigen Zellen haben bereits die Wirbelkörper angefressen und teilweise aufgelöst. Die Ärzte sehen nur noch ein Chance, um das Sterben des 64jährigen zumindest hinauszuzögern: Die entarteten Zellen im Knochenmark werden durch eine Hochdosis-Chemotherapie vollständig abgetötet. Danach soll eine Knochenmark-Transplantation erfolgen. Zinke:
    "Das überlebt nicht jeder, was die mit mir gemacht haben. Und da war ich wie, .wie ein Säugling. Mit Windeln, kannst dir vorstellen, wie parat ich war. Und ich war früher Polier auf der Baustelle. Ich hatte immer acht, zehn Mann, wo ich drüber was zu sagen hatte. Bei mir war immer halligalli, kannste dir vorstellen."
    Eine Knochenmark-Transplantation, wie sie Nikolaus Zinke erhalten hat, kostet im Schnitt fast 100.000 Euro. Und er ist nicht geheilt. Der Krebs steckt noch in ihm. Die weiteren Behandlungen, die seinen Gesundheitszustand mehr schlecht als recht stabilisieren, verschlingen ebenfalls Abertausende.
    "Letztlich haben alle Ärzte egal welcher Fachdisziplin das gleiche Problem, dass wir alle unter einem enormen Druck stehen, der dadurch kommt, dass die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben im stationären Bereich so weit auseinander geht, dass man letztlich das Gefühl hat, dass man nicht mehr die Medizin machen kann, weswegen man eigentlich diesen Beruf ergriffen hat.",
    sagt Professor Manfred Wilhelm, Onkologe und Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie. Er weist darauf hin, dass die Folgen dieser Kostenschere aber nicht offen und plakativ ins Auge springen. Niemand würde Nikolaus Zinke sagen: Für Sie gibt es diese sündhaft teure Knochenmark-Transplantation leider nicht. Und es wird auch keinem 80jährigen die neue Hüfte verweigert. Die Realität ist - noch - subtiler.
    "Man unterlässt eine medizinische Maßnahme, bestimmte Blutuntersuchungen oder bildgebende Verfahren, medizinische Operationen - man macht das nicht, obwohl man es für medizinisch sinnvoll und indiziert hält. Der Patientenwille ist auch da, aber man macht es nicht, weil man weiß: Das kann ich mit meinem Budget nicht machen, beziehungsweise, wenn ich es zu oft mache, kommt das Krankenhaus-Controlling zu mir und sagt: Sie geben da zu viel Geld aus und das ist durch das Geld, das wir für die Patienten bekommen, nicht abgedeckt – und dann gibt man es nicht."
    Gibt es Rationierung?
    Daniel Strech, Professor für Medizinethik an der Medizinischen Hochschule Hannover. Doch gibt es so etwas tatsächlich auch in Deutschland? Hat sich aufgrund des ökonomischen Drucks die Behandlungsqualität bereits verschlechtert? Wenn ja: wo? Daniel Strech leitete eine der ersten Untersuchungen, die das tatsächliche Ausmaß dieser Rationierung in Deutschland aufdecken wollte. Sein Team befragte 1000 Intensivmediziner und Kardiologen. Um ein realistisches Bild zu bekommen, wurde allen Befragten völlige Anonymität zugesichert. Das Ergebnis sorgte schließlich für Aufsehen in der Fachwelt: 78 Prozent der Ärzte gaben zu, in den letzten sechs Monaten aus Kostengründen Leistungen vorenthalten zu haben. 13 Prozent sagten aus, dies sogar fast täglich zu tun. Strech:
    "13 Prozent sind immer noch eine hohe Zahl, wenn man das hochrechnet auf knapp 300.000 Ärzte, die wir in Deutschland haben, die sagen, es ist ein Problem, was ich täglich habe."
    Daniel Strech und andere Forscher haben auch untersucht, wem denn zuallererst medizinische Leistungen vorenthalten werden. Ergebnis: Es trifft vor allem die ohnehin schon verletzlichen Bevölkerungsgruppen: alte Menschen, Migranten und auch weniger Gebildete, die sich nicht gut beim Arzt durchsetzen können. Dabei ist jede Rationierung juristisch gesehen verboten. Im Gesundheitsministerium wird das Thema entsprechend ignoriert, eine Interviewanfrage abgelehnt. Die offizielle Maxime lautet nach wie vor: Es ist genug Geld im System vorhanden. Man muss es nur richtig einsetzen. Manfred Wilhelm:
    "Das ist eine schwierige Art oder eigentlich auch gefährliche Art, mit dem Thema umzugehen, weil sie ja suggeriert, dass wir mit den derzeitigen Mitteln eine lösbare Situation haben und das haben wir ganz klar nicht."
    Und Manfred Wilhelm ist sicher: Die Lage wird sich weiter verschärfen, gerade in seinem Fachgebiet, der Krebsmedizin:
    "Die Onkologie wird deutlich teurer – und zwar deutlich, um das zu unterstreichen. Beispiel: Ein Darmkrebs, auch wenn er Metastasen hat, leben die Patienten heute dreimal so lang wie noch vor zehn Jahren, kostet aber auch 20 Mal so viel. Bei bestimmten Formen des Knochenkrebses reden wir von Steigerungen von 400fach."
    Ein ähnlicher Trend ist in der Kardiologie zu beobachten. Dank Katheter, Herzschrittmacher und künstlicher Herzklappe überleben heute viel mehr Patienten schwere Herzkrankheiten als noch vor 20 Jahren. Sie müssen dann aber auch bis ans Lebensende weiter versorgt werden, in der Regel mit teurer Medizin. Diese wird so zunehmend Opfer ihres eigenen Erfolgs. Der ehemalige Ärztepräsident Hoppe stieß dann im Jahre 2009 eine Debatte an. Er nannte das Schlagwort, für viele mittlerweile eher ein Unwort: Priorisierung. Bestimmte Patienten, bestimmte Therapien bekommen Priorität, haben also Vorrang. Daraus ergeben sich sofort Fragen: Wer wird dann noch versorgt? Und womit? Wer entscheidet das? Die Medizinethikerin Dr. Alena Buyx von der Uni Münster:
    "Wir würden über diese wirklich schwierigen Fragen nicht diskutieren, wenn wir genug Geld hätten, aber haben wir nicht mehr. Und deswegen müssen wir fragen: Was soll uns denn eine bestimmte Leistung wert sein? Das müssen wir fragen dürfen."
    Nikolaus Zinke liegt auf seinem Bett. Er kann noch kurze Strecken gehen, aber viel Kraft ist nicht mehr da.
    "Ich weiß, dass die Krankheit, die kannst nicht besiegen. Der Krebs, der macht dich fertig. Und im Endeffekt geht er selber daran kaputt. Weil nix mehr da ist, wenn du nicht mehr da bist. Dann hat er es auch hinter sich."
    Ein Leben auf Abruf. Nicht immer mit der besten Lebensqualität.
    "Dann habe ich Tage, da geht es mir besser, wie jetzt geht es mir wieder einigermaßen. Und dann habe ich Tage, da kannst Du mit mir keinen Blumentopf gewinnen."
    Sprecher: Dass er überhaupt noch gute Tage hat, verdankt er einem Krebsmedikament. Es heißt Revlimid und ist ein so genannter Immunmodulator. Es hemmt das Krebswachstum und fördert gleichzeitig die eigene Immunabwehr. Nur weil der Apotheker ihn auf den Preis aufmerksam gemacht hat, weiß Nikolaus Zinke, wie teuer das Medikament ist: 7000 Euro pro Packung.
    "Und das sind 21 Tabletten, die nehmen Sie 21 Tage, dann setzten sie sieben Tage aus und dann geht das Spiel wieder von vorne los. Und dann kannst Du Dir vorstellen, ich hab ja bestimmt schon zig Pakete von genommen."
    "Ich glaube, dass insbesondere dies die Fälle sind, über die wir in Zukunft ganz besonders nachdenken müssen, ob das Gemeinwesen und das Solidarwesen der gesetzlichen Krankenkassen wirklich bereit sind, zum Beispiel sechsstellige Beträge für eine zwei bis dreimonatige Lebensverlängerung bei sehr schlechter Lebensqualität noch aufzubringen."
    Der Sozialrechtler Professor Stefan Huster von der Universität Bochum.
    Zinke: "Ich bin auch schon drei Jahre aus dem Rennen jetzt. Aber man hat immer noch die Hoffnung. Ich bin ja noch nicht tot."
    Gewonnene Lebensjahre
    In England wird bereits seit Jahren gerechnet, wie viel gewonnene Lebenszeit kosten darf. Das nationale Institut namens NICE bewertet dort Medizin, seien es Medikamente, seien es OP-Methoden. Das zentrale Kriterium ist dabei das Verhältnis von Kosten und Nutzen. Es wird berechnet in Qualitäts-Adjustierten Lebensjahren, kurz QALY´s. Für Patienten wie Nikolaus Zinke könnte die Rechnung wie folgt aussehen:
    Kosten für die Krebstherapie pro Jahr: 84.000 Euro.
    Gewinn Lebenszeit: mindestens ein Jahr.
    Lebensqualität dabei: 70 Prozent.
    Kosten pro Jahr dividiert durch Lebensqualität: 84.000 durch 0,7.
    Ergebnis: 120.000 Euro pro Qualitätsjahr.
    Für einen englischen Krebspatienten wäre das eine schlechte Nachricht, denn diese Behandlung wäre zu teuer, die Kosten würden ihm nicht erstattet. Letztlich bestimmt die englische Gesundheitsbehörde per Rechenformel, wie viel ein gewonnenes Lebensjahr mit guter Lebensqualität kosten darf. Die Obergrenze ist nach aktueller Rechtsprechung 30.000 Euro, sonst wird nicht erstattet. Ausnahmen gibt es nur, wenn das Medikament die definitiv letzte Möglichkeit ist, das Leben des Patienten noch zu verlängern. Dann dürfen es 40.000 Euro sein. Ein Modell auch für Deutschland? Nikolaus Zinkes rechnerische Kosten liegen dreimal so hoch.
    "Es ist heute absolut unmöglich und auch nicht sinnvoll zu sagen: Zwei Monate sind uns 50.000 Euro wert. Das erstickt jede Diskussion."
    Professor Manfred Wilhelm, Universität Nürnberg.
    "Die Bevölkerung in England scheint bereiter zu sein, bestimmte Opfer, wenn man das so sagen darf, hinzunehmen. Denn insgesamt ist den Engländern ihr Gesundheitssystem geradezu heilig und sehr kostbar und die wollen das erhalten. Und das Bewusstsein ist da, dass das System gefährdet ist, die solidarische Finanzierung immer schwieriger wird angesichts der dort noch schlechteren finanziellen Situation und die Leute sind dann eben bereit, gewisse Opfer zu bringen um das System zu erhalten."
    Die Ärztin und Medizinethikerin Alena Buyx. Sie war stellvertretende Direktorin des englischen Ethikrates. Sie kennt die britische Seele, die stolz ist auf ihren National Health Service NHS, jenes steuerfinanzierte Gesundheitssystem, das im Ausland allerdings eher einen zweifelhaften Ruf hat. Aber das NHS hat – international einmalig – konsequent die Kosteneffektivität und das Rechnen mit Qualitäts-Adjustierten-Lebensjahren oder QALY´s als Entscheidungsgrundlage eingeführt: Ist das gewonnene Jahr zu teuer oder nicht? „Lohnt“ die Therapie?
    Buyx: "Es ist tatsächlich so, dass es insbesondere in Deutschland so eine Abwehrreaktion gibt gegen die so genannte Bepreisung des Lebens. Im Gesundheitswesen ist diese Vorstellung deswegen so besonders hart, weil wir nicht wollen, dass das Leben einen Preis hat, insofern, als wir uns eine Heilung beispielsweise nicht mehr leisten können. Und das ist sehr verständlich. Aus gerechtigkeitstheoretischer Sicht muss man aber sagen: Wenn wir das nicht tun, werden wir immer mehr Ressourcen ins Gesundheitswesen stecken müssen."
    Doch wie gerecht ist eine Formel, ein Zahlenwert, der den Wert der Lebenszeit mit einer schlichten Formel bemisst? Der Onkologe Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. Er lehnt den QALY-Ansatz ab:
    "Weil wir gar nicht für viele Maßnahmen wissen, inwieweit sie die Lebensqualität gut oder schlecht beeinflussen. Im Rahmen der Zulassung von Arzneimitteln in der Onkologie wird in einer Mehrzahl der Studien die Lebensqualität nicht vernünftig untersucht. Und was auch nicht untersucht wird, sind die Symptome, die sich bei dieser Behandlung verbessern oder verschlechtern. Und solange wir diese Erkenntnisse nicht haben, können wir die QALYs nicht heranziehen, um eine derartige Entscheidung zu treffen."
    Der deutsche nationale Ethikrat sieht das ähnlich und hat die Qualitäts-Adjustierten Lebensjahre als Entscheidungsgrundlage abgelehnt. Tatsache bleibt aber: Wenn die Priorisierung kommt – und davon gehen viele Experten aus – dann müssen Kriterien gefunden werden für die Entscheidung: Patient A bekommt die Therapie, Patient B nicht. Und an einem Punkt zumindest herrscht weitgehend Konsens: Es wird vorrangig die Todkranken treffen. Weil dort am meisten gespart werden kann. Und was denkt ein Todkranker darüber?
    Nikolaus Zinke: "Mein Wunsch ist das, was am optimalsten für mich ist, nicht was das kostet. Wir sind der reichste Staat der Erde und dann. Wenn ich jetzt noch nie was einbezahlt hätte, aber das ist auch nicht. Jeder Mensch ist gleich, oder nicht?"
    Dennoch hat Nikolaus Zinke ein mulmiges Gefühl, wenn er an seine Tabletten denkt.
    "Ich habe am Anfang, wie ich mir die angeschaut habe, da habe ich mir im Kopf schon ausgerechnet, dass eine Tablette über 300 Mark...Euro kostet. Man rechnet dann ja, ne. Und dann dachte ich bei mir: Das darf nicht wahr sein. Ich hatte Angst, die Dinger herunterzuschlucken. Ja, ist doch normal, ne?"
    Kriterien für Rationierung
    "Ich glaube, das ist die Frage, die wir uns als Gesellschaft stellen müssen – wir können das sogar unabhängig von den Kosten tun: Wie lange wollen wir an den Rändern des Lebens kämpfen? Und dass wir alle in der konkreten Situation natürlich alles tun wollen, damit unser Vater, unsere Tochter, unsere Angehörigen noch die wenigen zusätzlichen Wochen, die sie noch bekommen können, auch bekommen, das ist klar. Aber wenn wir auf der gesellschaftlichen Ebene über die Verteilung von so knappen Mitteln, wie wir sie im Gesundheitswesen haben, sprechen wollen, dann muss diese Frage erlaubt sein. Und diese Frage nicht zu stellen, ist eher unethisch. Wir wissen, dass die meisten Mittel ausgegeben werden in dem letzten Jahr oder den letzten sechs Monaten vor Eintritt des Todes und dort, insbesondere im Bereich der Onkologie, ist auch die Pharmaindustrie bemüht, immer wieder neue Methoden, die zum Teil sehr hochpreisig sind, in das System zu drücken. Und ich glaube, hier wäre die Überlegung, ob wirklich auch geringfügige Verlängerungen des Lebens zu enormen Preisen vom System getragen werden müssen, ein erster Ansatzpunkt, wo Priorisierungsüberlegungen beginnen können."
    Professor Stefan Huster, Sozialrechtler von der Uni Bochum und Teil einer interdisziplinären Forschergruppe, die gangbare Wege zur Priorisierung erarbeitet. Der Kernpunkt für alle Überlegungen ist: Nach welchen Kriterien soll priorisiert werden? Wer hat Vorrang? Der am schwersten Erkrankte? Der Jüngste? Oder der, der am wenigsten Mitschuld an seiner Krankheit hat? Und mit welcher Medizin wird behandelt – mit der billigsten? Mit der nützlichsten? Ein ethisches, ein juristisches und ein medizinisches Minenfeld tut sich auf.
    Priorisierungskriterium Nr. 1: Dringlichkeit
    Es scheint auf den ersten Blick völlig plausibel. Der Patient mit Krebs hat Vorrang vor dem Patienten mit Bänderriss. Und Herzinfarkt geht vor Brustvergrößerung. Aber hat auch der Krebspatient im Endstadium Vorrang vor dem Patienten mit schwerer Lungenentzündung? Unbehandelt sterben beide in wenigen Tagen. Gesetzt den Fall, man könne tatsächlich nur einen behandeln – wen denn? Dringlichkeit allein reicht offenbar nicht aus als Entscheidungsgrundlage.
    Priorisierungskriterium Nr. 2: Nutzen
    Dem Patienten mit Lungenentzündung kann mit Antibiotika geholfen werden. Sie retten sein Leben. Für den Krebspatienten gibt es eine Chemotherapie. Doch sie rettet ihn nicht zwangsläufig, sie verlängert vielleicht sein Leben um ein paar Wochen. Die Antibiotikatherapie beim Patienten mit Lungenentzündung hat einen viel größeren Nutzen. Er würde also den Vorzug bekommen. Stefan Huster:
    "Am Lebensende, da mag es aus einer gewissen Perspektive sehr dringlich sein, dass jemand behandelt wird und da mag es wirklich um Lebenserhaltung gehen, auf der anderen Seite wissen wir, dass gerade diese Maßnahmen am Lebensende häufig ein sehr schlechtes Kosten-Nutzen-Verhältnis haben."
    Kriterium Nr. 3: Kosten
    Mit dem Nutzen sind häufig untrennbar die Kosten verbunden, genauer: das Verhältnis von Kosten und Nutzen. Huster fordert ebenfalls, diesbezüglich den Blick auf lebensverlängernde Behandlungen zu richten. Doch der Stand der Diskussion zeigt: Als Hauptkriterium wie in England, mit klar begrenzten Kosten pro gewonnenem Lebensjahr, wird es eine Kosten-Nutzen-Analyse in Deutschland vorerst nicht geben, es gibt zu viele ethische Bedenken.
    Kriterium Nr. 4: Alter
    Neue Hüfte nur bis 60? Herzkatheter nur bis 70? So fragwürdig das Alter als Kriterium scheint, Tatsache ist: Im derzeitigen Klinikalltag mit versteckter, heimlicher Priorisierung und Rationierung spielt es ein Rolle. Studien belegen, dass vor allem älteren Patienten bereits jetzt Behandlungen vorenthalten werden, wenn die Kosten drücken. Und Stefan Huster hält das Alter auch keineswegs für ein abwegiges Kriterium:
    "Das chronologische Alter hat einen großen Vorteil gegenüber allen anderen Priorisierungskriterien: Es ist sehr transparent, es ist nicht manipulierbar und es behandelt eben alle gleich. Weil eben alle diese Lebensphasen durchlaufen. Und ich glaube, unter diesem Aspekt ist schon eine Überlegung wert, ob man nicht für bestimmte Maßnahmen, also zum Beispiel lebensverlängernde Maßnahmen, Altersgrenzen einführen könnte."
    "Also nur mit solchen Altersgrenzen zu arbeiten, ist extrem problematisch. Auch aus dem Grund, dass jemand, der ein gewisses Alter erreicht hat, ganz zu Recht sagen kann: Ich habe auch mein ganzes Leben eingezahlt und jetzt auf einmal sagt mir die Medizin: Sorry, du bist zu alt. Das wird durchaus als eine Vorenthaltung von etwas verstanden, was man verdient hat."
    Darüber hinaus, sagt Medizinethikerin Alena Buyx, sei das Alterskriterium auch medizinisch fragwürdig. Denn mancher topfitte 75jährige kann dank einer medizinischen Behandlung seine Lebenserwartung womöglich weiter steigern als ein 60jähriger, der Zeit seines Lebens den Körper mit Alkohol und Zigaretten malträtiert hat. Was zum letzten der am häufigsten diskutierten Priorisierungsgrundlagen führt.
    Kriterium Nr. 5: Eigenverantwortlichkeit
    Wenn die Mittel knapp sind – sollen die Krankenkassen für Raucher aufkommen, die Lungenkrebs haben? Oder für Übergewichtige, die Diabetes bekommen? Sollen all jene, die also "eine Mitschuld" an der Erkrankung tragen, hinten anstehen?
    "Hier haben die Umgebung, die gesamte Gesellschaft in gewisser Weise doch eine Mitverantwortung, denken Sie nur daran, in welcher Art und Weise auch schon bereits Kinder von der Nahrungsmittelindustrie von der Werbung überflutet werden und es ist eben in bestimmten sozialen Milieus nicht ganz einfach, dieser Werbung zu widerstehen."
    Stefan Huster ist wie viele andere Experten kritisch gegenüber angeblicher Mitschuld als Kriterium für Leistungskürzung. Dennoch ist die Eigenverantwortlichkeit, genau wie die Kriterien Dringlichkeit, Nutzen und Alter im ärztlichen Alltag schon jetzt gegenwärtig. Ärzte, die anonym zugeben, Leistungen aus Kostengründen zu rationieren, sie nennen eines oder mehrere dieser Kriterien als Teil ihres persönlichen Bauchgefühls, warum dieser Patient außen vor bleibt und jener nicht. Die Ärztin des Krebspatienten Nikolaus Zinke, Dr. Christina Limmroth, sagt, sie habe das Glück, in ihrer Klinik sich kaum Gedanken über Kosten machen zu müssen. Dennoch bekommt auch von der Onkologin und Oberärztin an der Medizinischen Klinik Köln Holweide nicht jeder Patient nur das Neueste und Teuerste. Sie orientiert sich am Vorleben des Patienten, an der Zeit, bevor er Krebs bekam.
    "Welche Lebensqualität hatte er vor der Erkrankung? Hatte er vorher schon eine schlechte Lebensqualität und ist er lebensmüde, dann ist natürlich der Einsatz von den Substanzen natürlich ein anderer, als wenn er vorher total fit war, mitten im Leben stand und, ja, viel Lebensqualität hatte."
    Entscheidungen aus dem Bauch
    Der Vorteil solcher Bauchentscheidungen: Sie können auf die individuelle Situation des Patienten zugeschnitten werden. Der Nachteil: Sie sind völlig intransparent, bei jedem Arzt anders gewichtet und für Patienten undurchschaubar. Genau das soll sich in einem System ändern, in dem Priorisierungsgrundsätze offiziell festgeschrieben werden. Um auch Verantwortung von den Schultern der Ärzte zu nehmen. Damit nicht einer allein entscheiden muss:
    "Kein Arzt ist in der Lage – und sollte auch nicht – im Einzelfall zu entscheiden, wie viel zwei Monate wert sind bei diesem Patienten. Das zerstört sofort das Arzt-Patientenverhältnis, das Vertrauen und ist keine Entscheidung eines einzelnen Arztes und sollte auch nicht sein."
    Manfred Wilhelm, Onkologe und Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie. Für Christina Limmroth dagegen rüttelt jede Überlegung in Richtung eines Priorisierungskatalog an den Grundfesten des Medizinberufs.
    "Ganz schrecklich, ganz schrecklich. Und ich möchte hier nicht mehr arbeiten, wenn es hier in Deutschland dazu kommen sollte. Wer stellt sich denn über uns und beschließt, ein Mensch mit 80 hat nur noch mit dieser Erkrankung... Nehmen wir einmal Darmkrebs, reicht es, wenn er dann nur noch drei Monate zu leben hat, mit den vorhandenen Substanzen. Wenn ich weiß, dass es möglich ist, mit anderen, neuen Substanzen, eine Lebensverlängerung von zwei Jahren zu schaffen. Das ist ja schrecklich."
    Manfred Wilhelm: "Es muss eine gesamtpolitische Entscheidung sein, letztlich muss es die Bevölkerung entscheiden: Was wollen wir im Gesundheitswesen von diesen beiden Polen; Mehr Geld oder Leistungsrestriktionen?"
    Doch dieses Thema ist hierzulande bei keiner einzigen politischen Partei auf der Agenda. Offenbar weil damit keine Wählerstimmen geholt werden können. Andere Länder zeigen sich weniger mutlos: In Schweden hat sich schon in den 1990er Jahren eine Parlamentskommission mit der Priorisierung beschäftigt und dann einen Bericht vorgelegt, der öffentlich diskutiert wurde. Auch in Deutschland sind – allerdings von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt - schon seit Jahren Wissenschaftler verschiedener Disziplinen mit dem Thema befasst. Sie haben in dicken Bänden die Vor- und Nachteile jedes Priorisierungskriteriums zu Papier gebracht. Die fachliche Grundlage für eine öffentliche Diskussion ist also längst gelegt. Was bisher völlig fehlte, ist die Einbeziehung der Öffentlichkeit. Professor Heiner Raspe, Bevölkerungsmediziner von der Universität Lübeck, nahm das zum Anlass, eine Bevölkerungskonferenz zum Thema Priorisierung ins Leben zu rufen.
    "So war ein Motiv für unsere Bürgerkonferenz, die wir in Lübeck organisiert haben, Sitz und Stimme zu reklamieren. Aber natürlich wollten wir zweitens auch wissen, wie dieses Thema schon bekannt ist bei den Bürgern, ob es schon verankert ist, ob man es verankern kann und wir wollten wissen und eigentlich auch zeigen, ob Bürger nicht genuine Beiträge liefern können zu dieser Debatte."
    Raspe und sein Team schrieben 3000 Lübecker Bürger an und baten sie um Teilnahme an einer solchen Konferenz. Von den rund 200, die ihre Bereitschaft signalisierten, wählten die Wissenschaftler schließlich 20 Personen, aus allen möglichen Berufsgruppen und im Alter zwischen 20 und 70. Drei Wochenenden lang diskutierten die Bürger mit Hilfe von Experten die Priorisierung in der Medizin. Am Ende stand für die Lübecker Forscher die überraschende Erkenntnis, dass die Bevölkerung durchaus die Kürzungen von Mitteln akzeptiert, wenn diese am Ende auch gerecht eingesetzt werden. Und darüber hinaus brachten die Bürger Aspekte ins Spiel, die die Forscher selbst noch gar nicht bedacht hatten.
    "Sie haben auf die Personen mit Migrationshintergrund aufmerksam gemacht, haben gesagt, was machen wir eigentlich in der Priorisierung mit diesen Gruppen, die ja nach Zählung zehn bis 30 Prozent inzwischen ausmachen, wie berücksichtigen wir eigentlich die kulturellen Unterschiede?"
    Für Heiner Raspe war das ein erfolgreicher Testlauf für den Einstieg in eine öffentliche Diskussion. Und auch Medizinethiker Daniel Strech sieht keinen Grund mehr für eine weitere Unterdrückung des Themas.
    "Ich denke, dass wir uns jetzt mal in den nächsten Schritt trauen müssten und das einfach mal an Beispielen durchexerzieren müssten. Das heißt nicht, dass die Krankenkassen morgen bestimmte Dinge nicht mehr bezahlen, aber einfach mal darstellen, wie so etwas in der Praxis aussehen würde. Weil, da würden wir sehr viele Herausforderungen erleben, wenn wir plötzlich vor konkreten Krankheitsbildern oder Patientengruppen stehen, konkrete Medikamente oder Prozeduren haben und dann entscheiden müssen: Was ist denn jetzt eine schwere Erkrankung? Und was ist denn eine mehr oder weniger schwere Erkrankung? Und ist denn jetzt ein Nutzen, den ein Patient oder eine Patientin hat, groß?"
    Viele Experten halten es für wahrscheinlich, dass sich in Deutschland ein Priorisierungsmodell nach schwedischem Vorbild etablieren ließe. Konkrete Leitlinien geben dort vor, welche Behandlungen zum Beispiel bei Herzerkrankungen sinnvoll sind und welche verzichtbar. Wichtig auch: Fast immer sind das nur Empfehlungen. Das letzte Wort hat weiterhin der Arzt. Dennoch haben die Schweden fast 20 Jahre öffentliche Diskussion gebraucht, um ihren Priorisierungskatalog ins Gesundheitssystem einzuführen. Alena Buyx:
    "Ich glaube, dass die gerechte Verteilung im Gesundheitswesen eines der schwierigsten Probleme ist, die wir gegenwärtig haben, und es gibt keine einfache Lösung und es gibt auch keine kurzfristig einsetzbaren Lösungen. Wir müssen uns da auf einen Prozess einlassen, der sehr schwierig ist, wo sehr viele unterschiedliche Interessen Einfluss nehmen werden, der politisch unattraktiv ist, der uns letztlich allen irgendwie weh tut. Das heißt aber nicht, dass er nicht notwendig ist."
    Nikolaus Zinke: "Ich habe dann für die Ärztin gesagt: Wie lange läuft das denn noch? Weil ich ja auch gerechnet habe, was da zusammen kommt. Also wir hätten schon jeder ein schönes dickes Auto, wenn wir zwei das Geld hätten. Aber das ist ja nicht der Sinn der Sache. Aber das sind ja Gelder, was mein Geld und Ihr Geld ist. Was anderes ist es doch nicht, oder?"