Archiv


Problematisches Schlagwort

Auf den ersten Blick spricht nichts gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Schließlich ist es ein Prinzip, das auch für Freiheit und Demokratie steht. Doch diese Prinzip ist widersprüchlich und lädt zu Missverständnissen ein, meint Jörg Fisch.

Von Stefan Schieren |
    Die Idee vom Selbstbestimmungsrecht der Völker hat ihre Ursprünge in der frühen Neuzeit. Ihre historische Wirksamkeit entfaltet sie allerdings erst allmählich im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Doch bereits zu dieser Zeit zeigte sich, wie wenig die Idee dazu geeignet war, als Ordnungsprinzip für eine anarchische Staatenwelt zu dienen. Die Ursache hierfür liegt, wie Jörg Fisch im systematischen ersten Teil seiner Studie überzeugend zeigt, maßgeblich darin, dass der Begriff "Selbstbestimmungsrecht der Völker" widersprüchlich ist und zu Missverständnissen einlädt. Wer ist Träger des Rechts? Die Staaten als politischer Körper eines Volkes? In diesem Fall dient es dem Zweck, die staatliche Souveränität und territoriale Integrität eines Staates zu behaupten. Oder kann sich eine Gruppe von Menschen auf dieses Recht berufen, die sich durch mehr oder minder eindeutige gemeinsame Merkmale wie Sprache, Geschichte und Kultur auszeichnen und daher als Volk bezeichnen? Dann lässt sich aus dem Selbstbestimmungsrecht das Recht auf Sezession ableiten, wodurch die nationale Souveränität und territoriale Integrität eines Staates akut bedroht würden. Kurz und gut: Der Begriff hält sogar für gänzlich gegensätzliche politische Ziele passend erscheinende Argumente parat.

    Damit wird erneut die zentrale Schwierigkeit sichtbar, mit der die Selbstbestimmungsrechtsformel verbunden ist. Sie enthält ein Versprechen, das nicht eingelöst werden kann.

    Gemeinhin wird das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson zurückgeführt. Dieser dürfte jedoch vor 1917 weder den Begriff noch das mit ihm verbundene Konzept gekannt haben. Nachdem aber Lenin die Idee offensiv propagierte und international großen Zuspruch erhielt, sah sich Wilson genötigt, Lenin im weltpolitischen Wettbewerb der Ideologien entgegenzutreten. Er sprach sich öffentlich in allgemeiner Form für ein Selbstbestimmungsrecht der Völker aus. Meinen tat er allerdings "Selbstregierung" als den Anspruch aller Menschen, in einem demokratischen Staat leben zu können. Keinesfalls wollte er das Selbstbestimmungsrecht so verstanden wissen, dass sich aus ihm der Anspruch auf die Änderung bestehender Grenzen ableiten ließe. Die Lehren aus dem amerikanischen Bürgerkrieg schlossen das kategorisch aus. Genau so wurde er aber von den Verlierern des Weltkriegs interpretiert.

    Die Folgen waren problematisch. Wilson ließ – wie weit bewusst und wie weit unbewusst, lässt sich nicht mit Sicherheit entscheiden – einen falschen Eindruck aufkommen. Wilson hatte, indem er die Selbstbestimmung eingebracht hatte, wesentlich zu den Schwierigkeiten der Friedensregelung [von 1919/20] beigetragen.
    Mit diesem Urteil rückt Fisch mit guten Argumenten das Bild Wilsons als wackerem Streiter für Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit zurecht, dessen Völkerbundidee von übelwollenden Gegnern torpediert wurde. Fisch macht deutlich, dass Wilson eine nicht unerhebliche Verantwortung für die Krise der Nachkriegszeit zukommt. In diesem Sinne hat sich der spätere amerikanische Außenminister Robert Lansing weitsichtiger als Wilson erwiesen, als er bereits 1920 die vermeintliche Verheißung Wilsons sorgenvoll kommentierte:.

    Die Formel ist mit Dynamit geladen. Sie wird Hoffnungen wecken, die nie verwirklicht werden können. Ich fürchte, sie wird Tausende von Leben kosten. Sie wird schließlich notwendigerweise diskreditiert sein. Welche Katastrophe, dass die Formel jemals ausgesprochen wurde! Welches Elend sie verursachen wird!
    Die Teilung Indiens 1947 sollte die schreckliche Bestätigung für Lansings Sorge liefern.

    Die Kolonialverwaltung zog die neue Staatsgrenze möglichst entlang der Religionsgrenzen. Dabei ging sie bei der Feststellung und Berücksichtigung der Mehrheitsverhältnisse bis auf die Distriktebene hinunter. Die Folgen waren verheerend: Die Teilung gemäß dem Kriterium der religiösen Homogenisierung führte angesichts der bestehenden starken Durchmischung zu Krieg und Bürgerkrieg, zu Millionen Toten, Flüchtlingen und Vertriebenen.
    Trotz solcher Erfahrungen erlangte das Selbstbestimmungsrecht seinen festen Platz im Völkerrecht, so 1966 in den beiden Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen verankert.

    Die Welt hatte das Prinzip der Selbstbestimmung geerbt, und sie konnte dieses Erbe nicht mehr ausschlagen. Dazu war sein Prestige als Schlagwort seit Lenin und Wilson zu groß.
    Fisch beschränkt sich nicht darauf, die Geschichte der unaufhaltsamen Karriere eines problematischen Schlagworts zu erzählen. Er liefert systematische und historische Erklärungen für dieses Phänomen, die den Leser auf heilsame Weise irritieren. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker kam als Ordnungsidee in die Welt, um sie friedlicher zu machen. Diese Funktion erfüllte es aber fast nie. Selbst im Zuge der nach 1960 insgesamt recht friedlich verlaufenden Entkolonialisierung lag seine Bedeutung nicht darin, als Formalkriterium zur Konfliktregulierung beigetragen zu haben. Es spielte "primär eine propagandistische Rolle", um, wie abseits der Entkolonialisierung auch, Machtinteressen völkerrechtlich zu verbrämen.

    Und nicht selten geschahen in seinem Namen fürchterliche Gräuel. Fischs großartiges Buch lehrt, dass die internationalen Beziehungen nur selten allgemeinen Prinzipien gehorchen. Noch weniger lassen sie sich danach gestalten. Wer das vermutet, schätzt die Bedeutung von Macht und Interessen in der internationalen Politik zu gering und überschätzt das Völkerrecht, ungeachtet seiner hohen Bedeutung. Handelt es sich zudem um ein so missverständliches und widersprüchliches Prinzip wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker, kann von ihm sogar erheblicher Schaden ausgehen. Fischs Buch ist Lesegenuss, sowie historische und politische Lehrstunde. Ihm sind viele Leser nicht nur unter Diplomaten und Völkerrechtlern zu wünschen, damit die Domestizierung einer Illusion gelingen möge.

    Jörg Fisch: "Das Selbstbestimmungsrecht der Völker – Die Domestizierung einer Illusion". Das Buch ist bei C.H.Beck erschienen, es hat 384 Seiten und kostet 24,95 Euro, ISBN 978-3-406-59858-6.