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Prognosen für die nächsten 100 Jahre

Michio Kaku wirft einen faszinierenden Blick in die Kristallkugel der Wissenschaft und sieht etwa Computer, die unsere Gedanken lesen können. In "Morgenstadt" interessieren sich die Autoren dafür, wie in der Zukunft Nahrungsmittel produziert oder Energie gewonnen werden könnten.

Von Stefan Maas |
    Die schlechte Nachricht zuerst. Wir werden wohl nicht mehr erleben, was der Untertitel des jüngsten Buches des US-amerikanischen Physikers Michio Kaku verspricht. Der lautet nämlich:

    "Unser Leben in 100 Jahren."

    Schade eigentlich, denn was der Professor für theoretische Physik an der City University of New York ankündigt, klingt geradezu fantastisch:

    "Um 2100 werden wir so mächtig wie die Götter sein, die wir einst verehrten und fürchteten."

    Das allerdings wird die Menschheit nicht der Magie zu verdanken haben, sondern dem wissenschaftlichen Fortschritt, an dessen positive Folgen Kaku unerschütterlich glaubt. Vielleicht ist das auch der Grund, warum er sich an vielen Stellen nur sehr oberflächliche Gedanken darüber macht, welche politischen oder gesellschaftlichen Folgen diese Entwicklungen zeitigen könnten. Etwa wenn es um zukünftige Waffentechnik geht oder die theoretisch mögliche Wiederauferstehung ausgestorbener Arten – bis hin zum Neandertaler. Dafür geht der Autor lieber der Frage nach, ob intelligente Computer die Menschheit vernichten könnten oder nicht – und wie dies zu verhindern sei. Klingt nach Science Fiction? Ist es aber nicht, schreibt Kaku – sondern vielmehr eine seit Langem laufende Diskussion. Für dieses Buch und eine Reihe von Dokumentationen, an denen der umtriebige Professor unter anderem für die BBC mitgewirkt hat, hat er mit 300 der

    "weltweit bekanntesten Wissenschaftler, Denker und Träumern"

    gesprochen. Um den Weg von der ersten Idee, vom Labortisch zur alltagstauglichen technischen Vision zu verdeutlichen, hat Kaku seine Themen-Kapitel immer in drei Zeitabschnitte unterteilt: Nahe Zukunft bis 2030, Mitte des Jahrhunderts bis 2070 und ferne Zukunft bis 2100.

    "Computer, die lautlos unsere Gedanken lesen, werden unsere Wünsche ausführen. Wir werden Objekte allein durch unsere Gedanken bewegen, eine telekinetische Kraft, die gewöhnlich nur den Göttern vorbehalten ist. Dank Biotechnologie werden wir perfekte Körper schaffen und unsere Lebensspanne verlängern. Wir werden zudem Lebensformen kreieren, wie es sie auf der Erde nie zuvor gegeben hat. Mit unseren Maschinen werden wir die unbegrenzte Energie der Sterne nutzbar machen können. Wir werden zudem kurz davor stehen, Raumschiffe auszusenden, um nahegelegene Sternsysteme zu erforschen."

    Nimmt man nach diesem Versprechen das Buch von Hans-Jörg Bullinger und Brigitte Röthlein zur Hand, dann wirkt schon die Themenübersicht in "Morgenstadt – Wie wir morgen Leben – Lösungen für das urbane Leben der Zukunft" geradezu so, als hätte man den Abenteuerurlaub gegen eine Stadtführung getauscht.

    Schreibt Kaku unter anderem ausführlich über:

    "Die Zukunft der künstlichen Intelligenz. Die Zukunft der Medizin. Die Zukunft der Raumfahrt. Die Zukunft der Menschheit."

    …formulieren der ehemalige Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft Bullinger und die Journalistin Röthlein für die Stadt der Zukunft ihre Kernthemen etwa so:

    "Bauen und Wohnen, Ernährung und Gesundheit, Mobilität, Ver- und Entsorgung, Arbeitswelt, Sicherheit und Kommunikation."

    Davon sollte sich der Leser aber nicht abschrecken lassen, denn er wird schnell feststellen, dass ihm die beiden Autoren damit eine sehr gut gegliederte Straßenkarte an die Hand geben, die ihn nicht nur in deutsche Küchen, Wohn- und Badezimmer führt, die für Ihre Besitzer mitdenken, nicht nur auf Dächer, auf denen Energie oder zukünftig Nahrungsmittel produziert werden. Sie führt ihn auch zu Projekten in aller Welt, an denen gut die Hälfte der 60 Fraunhofer-Institute in der einen oder anderen Form mitgearbeitet haben, sagt Hans-Jörg Bullinger, der im Herbst seinen Abschied als Präsident der Fraunhofer Gesellschaft nahm:

    "Es war schon so, dass dieses Buch noch einmal zusammenfassen sollte, was wir in den letzten Jahren zu diesem Thema erarbeitet haben, um zu sehen, was es für Perspektiven für die Zukunft gibt."

    Nicht nur die Städte in Deutschland werden sich verändern. Die großen Herausforderungen liegen in den Megacities von Asien und Afrika:

    "Die Städte der Welt wachsen mit atemberaubender Geschwindigkeit: Jährlich ziehen etwa 60 Millionen Menschen vom Land in die urbanen Zentren, weil sie dort bessere Lebensbedingungen erwarten."

    Die Folge: Städte bedecken zwar nur zwei Prozent der Erdoberfläche, verbrauchen aber drei Viertel aller Ressourcen,

    "…stoßen dabei gigantische Wolken von Treibhausgasen aus, Milliarden Tonnen Müll und ganze Ströme giftiger Abwässer."

    Das ist für den halbwegs interessierten Leser nichts Neues mehr und gehört sozusagen zu den Standard-Sehenswürdigkeiten einer Zukunftstour. Das Interessante an "Morgenstadt" ist vielmehr der Blick in die Seitenstraßen, hinter die Kulissen, wo an der Lösung all dieser Probleme gearbeitet wird. Etwa wenn der Leser erfährt, wie es zum Beispiel mit Hilfe deutscher Wissenschaftler gelingen kann, das Wasserproblem der von massiver Trockenheit bedrohten chinesischen Hauptstadt Peking zu lindern. An Beispielen wie diesem zeigt sich auch die politische Dimension des Buches:

    "Wir könnten heute technisch schon sehr viel mehr realisieren, als wir tun."

    Sagt Hans-Jörg Bullinger. Gerade in den Ländern, denen solche Technologien am meisten helfen würden, scheitere es aber oft am Geld. In Deutschland hingegen sei es eine Frage des Wollens. Politiker, aber auch die Bürger sind gefragt, solche Entwicklungen voran zu treiben oder zumindest nicht zu verhindern – etwa die Energiewende. Denn von der kann Deutschland auch langfristig viel mehr profitieren, als es vielen bewusst ist, davon sind die Autoren überzeugt.

    Hans-Jörg Bullinger: "Wenn es denn in Zukunft so wäre, dass Produkte aus Deutschland nicht nur deswegen geachtet würden, weil sie qualitativ hochwertig sind, sondern weil sie die Energie effizientesten sind, weil sie die Umwelt nicht belasten, weil sie sicherer sind. Also alles Merkmale, was wir uns für die Elemente der Morgenstadt auch vorgenommen haben, dann wäre das natürlich auch eine riesige Marktchance für unsere Wirtschaft, dass wir, nachdem wir die Energiewende nun mal beschlossen haben, schneller als andere diese Produkte und Dienstleistungen entwickeln, die in anderen Regionen dieser Welt, auch in den Megacities, mit Sicherheit gebraucht werden."

    Michio Kakus "Physik der Zukunft" ist faszinierend - wenn man sich nicht davon abschrecken lässt, dass der Blick in die Kristallkugel der Wissenschaft schon sehr tief ist. Aber gerade in einem Jahr mit Bundestagswahl, einem Jahr, in dem Weichen – auch für die Energiewende – gestellt werden, ist es "Morgenstadt" das die wirklich interessanten politischen Denk-Anstöße liefert. Denn letztlich fallen heute viele Entscheidungen für "unser Leben in 100 Jahren".

    Hans-Jörg Bullinger/Brigitte Röthlein: Morgenstadt. Wie wir morgen leben: Lösungen für das urbane Leben der Zukunft.
    Carl Hanser Verlag, 286 Seiten, 24,90 Euro
    ISBN: 978-3-44643-203-1

    Michio Kaku: Die Physik der Zukunft: Unser Leben in 100 Jahren.
    Rowohlt Verlag, 592 Seiten, 24,95 Euro
    ISBN: 978-3-49803-559-4