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"Programmierbare Ohnmacht der aufrührerischen Bevölkerung"

Elektroschocks, Betäubungsgas und Klebeschaum werden immer mehr von Polizeien eingesetzt, um Gegner kampfunfähig zu machen, ohne sie zu töten. Doch die Direct Energy Munition, kurz Demon lässt sich auch gegen politische Störenfriede auf Demonstrationen richten. In seinem neuen Buch "Demonen" nimmt Olaf Arndt die moderne Mythologie der Inneren Sicherheit kritisch unter die Lupe. Das NordwestRadio hat daraus bereits ein Hörspiel gemacht.

Von Nicola Balkenhol |
    "Das Auge der Kamera schaut stumpf in die Zelle hinunter. Gelbes Licht. Ein kurz geschorener Blonder, barfuss auf dem nackten Boden, ohne Hemd. Ein muskulöser Körper in einer verblichenen Jeans. Der Mann rast ziellos im Kreis. Das Subjekt springt auf das Auge der Kamera zu, auf dem Weg in die Höhe vergrößert sich der Kopf des Gefangenen ins Groteske. Er öffnet den Mund zum Schrei und stößt Speichel aus. Ungerührt registriert das Aufzeichnungsgerät das langsame Abfließen der Spucke. "

    Im Zentrum der Überlegungen zu den gewünschten Wirkungsweisen steht nicht länger eine Stilllegung des rebellierenden Körpers, sondern eine Unterbrechung des Zusammenhangs zwischen Bewusstsein und Aktion. Nicht bloß Ruhe und Ordnung, sondern vielmehr die programmierbare Ohnmacht der aufrührerischen Bevölkerung könnte ein Ziel erster Ordnung in den Rechtsstaaten des 21. Jahrhunderts werden.

    Hilfsmittel zu Herstellung so verstandener "Ruhe und Ordnung" sind nicht-tödliche Waffen. Geiselnehmer können beispielsweise mit Gasen kampfunfähig gemacht werden, wie 2002 im Musical-Theater in Moskau, in dem tschetschenische Rebellen hunderte Zuschauer und Schauspieler festhielten, aggressive Gefangene werden mit Elektroschock-Pistolen - Tasern - "zur Raison" gebracht.

    "Die Zellentür halb noch im Sichtbereich fliegt auf. Ein uniformierter Beamter stürmt herein. Alles geht sehr schnell. Ein Sirren und Knistern, das sich rhythmisch wiederholt. Der Mann liegt sogleich am Boden, windet sich wie ein Aal an Land. Schmerzensschreie unterbrochen von Kommandos. Der Mann (…) winselt mittlerweile nur noch. Zwei Kabel stecken in seiner Brust. Der Beamte mit der Pistole, aus der die Kabel abgehen, schaut sich um. Er sucht die Kamera. Und signalisiert mit erhobenem Daumen: Operation erfolgreich abgeschlossen."

    Taser in der Gefängniszelle, Gas im Moskauer Geiseldrama: zwei Beispiele für den Einsatzbereich von Waffen zur Herstellung oder Wahrung der Inneren Sicherheit. Die auf diesem Feld benutzten Waffen sollen den Gegner kampfunfähig machen, aber nicht umbringen, weshalb sie auch als "nicht-tödliche Waffen" bezeichnet werden. "Nicht-tödlich" ist dabei relativ: Taser, schreibt Olaf Arndt in seinem Buch allerdings ohne Hinweis auf die Quelle, nämlich einen Bericht von Amnesty International vom November 2004, Taser haben seit 2001 in 70 Fällen zum Tod der damit beschossenen Menschen geführt. Und auch im Moskauer Theater blieb der Einsatz des bislang unbekannten Gases nicht ohne Folgen: von den 700 Geiseln kamen dadurch mehr als 120 ums Leben.

    Taser und Gase werden von Polizeien weltweit bereits eingesetzt. Andere nicht-tödliche Waffen scheinen direkt aus der Welt des Comics oder Science-Fiction zu stammen: abschießbare Fangnetze, Klebeschaum, Geräte, die Menschenansammlungen mit akustischen oder visuellen Halluzinationen handlungsunfähig machen sollen, Mikrowellenkanonen - oder ist so etwas doch mehr als Fiktion? "Ätzende und klebende Polyurethan-Bällchen mit 50-fachem Volumenaufschäumungspotential" werden laut Arndt "seit Jahren" von den US-Marines verwendet, "beispielsweise um UN-Soldaten bei Essensausgaben vor hungrigen Afrikanern zu schützen". Fangnetze kommen Arndt zufolge "hinter Gefängnismauern zum Einsatz". Und weiter:

    Wie mag es auf die Gemüter wirken, wenn auf einem öffentlichen Platz Sekunden nach einer Besprühung mit einem speziell konfektionierten Gas - sagen wir - 4.000 Menschen gleichzeitig heftigen Durchfall bekommen? Was verspürt der Gast einer öffentlichen Kundgebung, wenn man ihn mit einer sonischen Halluzination traktiert, die es ermöglicht, eine (Fehl-)Information auf mehrere hundert Meter Distanz zu projizieren und der Wahnidee von der körperlosen Stimme im Kopf die technische Lösung nachliefert?

    Verschwörungstheorie oder Wirklichkeit? Arndt achtet auf die Bilder, die etwa bei der Aufzählung von Kampfmitteln für den Einsatz im Inneren entstehen. Seine Informationen bezieht er aus Untersuchungen und Gutachten für das Europäische Parlament und den Bundestag, aus Gesprächen mit Wissenschaftlern und Vertretern von Firmen, die solche Stoffe und Waffen herstellen. Was er dabei liest und hört, changiert zwischen wissenschaftlich untermauertem Kontrollzwang und versponnener Technik-Verliebtheit. Vieles wirkt spielerisch, verniedlicht, phantastisch. Das Akronym "Demonen" mit E, das Arndts Buch den Titel gab und für "Directed Energy Munitions" steht, nimmt er zum Anlass für Abstecher in die griechische Mythologie. Auf eine fiktionale Vorlage der Neuzeit, nämlich die Geschichte "Tom A. Swift And His Electric Rifle" von Victor Appleton aus dem Jahr 1910, geht das Akronym TASER zurück:

    "Was für ein Gewehr ist das? fragte der Commander, als der junge Mann an die Reling trat. Tom antwortete nicht. Er passte sich dem Rollen und Stampfen des Schiffes an, das jetzt mit halber Fahrt lief. Dann richtete er das Gewehr auf das gigantische Seeungeheuer, sah auf die automatische Zielvorrichtung, wartete einen Moment, bis die Flutwelle absank, und drückte auf den Auslöser. Wer aber mit einem lauten Knall und Feuerstoß gerechnet hatte, wurde enttäuscht. Es gab absolut kein Geräusch. Dennoch stoppte das große Tier mitten in einem Strudel aus Schaum. Es schien in 1000 Teile zerschossen und zerfiel wie ein Stück Zucker in einer Teetasse. Bereits Sekunden, nachdem Tom sein elektrisches Gewehr abgefeuert hatte, war von dem Tier nichts mehr zu sehen abgesehen von etwas Blut auf ruhiger See."

    Der erste Taser-Prototyp entstand laut Arndt 1970. Sein Erfinder, ein US-Amerikaner, verkaufte das Patent an eine Firma, die die Waffe in den 90er Jahren weiterentwickelte. Inzwischen ist sie im Einsatz: in US-amerikanischen Gefängnissen und bei der britischen Polizei.

    Deutschlandfunk-Nachrichten vom 29.7.05, 7 Uhr:
    "Der britische Polizeichef Blair hat den Einsatz der so genannten Taser-Pistole bei der Festnahme des mutmaßlichen Attentäters von London kritisiert. Die Beamten in Birmingham seien ein unglaubliches Risiko eingegangen, sagte Blair dem BBC-Fernsehen. Der durch die Waffe ausgelöste Hochspannungsimpuls hätte die Explosion einer möglicherweise am Körper versteckten Sprengladung auslösen können."

    Und in Deutschland? In manchen Bundesländern wurde oder wird der Einsatz von Tasern getestet, aber mit dieser konkret politischen Ebene beschäftigt sich Arndt nicht. Ihm geht es mehr um den "kulturhistorischen Hintergrund", der die Entwicklung und die Anwendung nicht-tödlicher Waffen ermöglicht, um den Zusammenhang von gesellschaftlich Gewolltem und technisch Machbarem. Seine Haltung ist kritisch: er macht eine "Tendenz zur vorverlagerten Repression" aus, bei der die Bürger auch noch freiwillig mitmachen. Türöffner sei die Unterhaltungselektronik. Mobilfunk hilft, Menschen zu orten, ihre Kaufgewohnheiten geben sie mithilfe von elektronischen Rabattsystemen preis, oder noch besser: sie lassen sich Chips unter die Haut setzen, die alle gewünschten Informationen speichern und auf Anfrage weitergeben. Vor allem letzteres erschüttert Arndt: "die Bereitschaft zur widerstandslosen Preisgabe des letzten, des inneren Refugiums", vordergründig im Namen technisch ausgefeilter Dienstleistung, zugleich im Namen optimierter Innerer Sicherheit.

    "Die totale Dienstleistung macht die totale Überwachung hinfällig."

    Arndts Buch ist kein Sachbuch und keine Fiktion. Es enthält von beidem etwas. Das ist dem Material einerseits angemessen: Die Schilderungen, mit denen Waffen-Erfinder ihre jüngsten Erzeugnisse anpreisen, bedienen sich eines fiktionalen Vokabulars, das den Zweck verdeckt und stattdessen Phantasien mobilisiert. Diesen räumt Arndt in einem gleichzeitig erschienen Hörspiel und einem Theaterprojekt noch mehr Raum als in seinem Buch ein. Andererseits bleibt Vieles im Ungefähren: Welche dieser Waffen sind schon einsatzbereit, welche nicht, welche werden es nie sein? Wo werden sie eingesetzt, ist das legal oder illegal? Oft lassen sich Quellen nicht korrekt Aussagen zuordnen, weil Arndt nur pauschal auf Informanten oder Material hinweist. Hier verschenkt der Autor Möglichkeiten. So bietet "Demonen" zwar viele Anregungen, sich mit den neuesten Formen der Kontrolle im Inneren zu beschäftigen, harte Fakten müssen sich die interessierten Leser aber anderswo besorgen.

    Olaf Arndt: Demonen - Die Mythologie der Inneren Sicherheit
    Edition Nautilus, 160 Seiten, 12.90 Euro