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Projekt "Gemeinde-Notfallsanitäter"
Entlastung für Notärzte

Die Einsatzzahlen im Rettungsdienst sind in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Etwa ein Drittel davon sind aber keine wirklichen Notfälle, glauben Experten. In Niedersachsen soll das Modellprojekt der "Gemeinde-Notfallsanitäter" jetzt Notärzte entlasten - besonders in ländlichen Gegenden.

Von Alexander Budde | 23.01.2019
    Ein Rettungswagen mit Blaulicht in schneller Fahrt
    "Gemeinde-Notfallsanitäter" sollen reguläre Rettungsdienste entlasten. (PA/dpa/Marcel Kusch)
    Die Malteser-Rettungswache in Lohne, eine Stadt im Landkreis Vechta im westlichen Niedersachsen: Nicole Zimmermann trifft Vorbereitungen für ihre Frühschicht: Ein letzter prüfender Blick in die Diagnostik-Tasche mit Stethoskop und Blutzuckermessgerät. Mundspatel für Untersuchungen im Nasen-Rachen-Raum. Mitgeführt wird auch technisches Gerät für den Notfall:
    "Das ist unser EKG-Gerät, was wir auf dem Auto haben. Das ist dasselbe, was wir auch auf dem Rettungswagen vorhalten – allerdings mit einer kleinen Besonderheit: Wir können quasi unser EKG-Bild, was uns der Patient zeigt, auf diesem Monitor direkt 1 zu 1 nach Oldenburg in die Telemedizin-Zentrale übertragen. Die sehen dann auf dem Bildschirm alles das, was ich auch sehe. Und der Arzt dort vor Ort kann dann den Patienten beurteilen."
    Statt wie sonst zu zweit im Rettungswagen, arbeitet Zimmermann als Gemeindenotfallsanitäterin allein. Zu ihren Einsätzen im dünn besiedelten Oldenburger Münsterland fährt die 45-Jährige ohne Blaulicht. Mit ihrer Ausrüstung ist sie auf die häufigsten Gesundheitsprobleme einer alternden Landbevölkerung eingestellt. Mehr Zeit für Untersuchung und Beratung, leichtere Verletzungen kann Zimmermann schon vor Ort versorgen, mit ärztlicher Erlaubnis darf die Ersthelferin ihren Patienten auch schmerzstillende und fiebersenkende Medikamente oder ein Antibiotikum verabreichen.
    Einsatz nur, wenn keine Lebensgefahr besteht
    Zimmermann, eine gut geschulte Notfallsanitäterin mit 25 Jahren Berufserfahrung, wird nur gerufen, wenn die Notrufzentrale davon ausgeht, dass keine Gefahr für Leib und Leben besteht.
    "Notruf 112 – wo genau ist der Notfall? Ja, wie genau ist der Blutzuckerwert? Haben Sie genug getrunken?"
    In der Leitstelle blickt Disponent Rainer Müller auf eine Galerie von Bildschirmen: darauf Straßenkarten, Adressen, Listen laufender Vorgänge. Die Einsatzzahlen im Rettungsdienst weisen seit Jahren steil nach oben, dabei sind nach Expertenschätzung gut ein Drittel davon keine echten Notfälle:
    "Deswegen haben wir hier den Gemeindenotfallsanitäter eingeführt, damit wir der entsprechenden Person, die aus unserem Ermessen keinen Rettungswagen benötigt, trotzdem Hilfe bieten – und das ist ein sehr hilfreiches zusätzliches Mittel, das wir gerne nutzen."
    Ein Knopf mehr sozusagen, wo es früher nur die Wahl zwischen Rettungswagen und Notarzt gab. Die Disponenten haben eine große Verantwortung, sagt Landrat Herbert Winkel von der CDU. Um auf Nummer sicher zu gehen, werden sie die rollende Intensivstation lieber einmal zu viel rausschicken als einmal zu wenig.
    "Diese Entscheidung, dann nur am Telefon aufgrund von Fragen zu sagen, ich schicke jetzt dieses oder jenes Rettungsmittel raus, ist ganz schön schwierig."
    Bundesweit haben sich die Kosten für den Rettungsdienst in den letzten zehn Jahren verdoppelt – auf rund zwei Milliarden Euro im Jahr:
    "Die Kosten, klar, spielen eine große Rolle: Wenn ich mit zwei Leuten rausfahre, wenn ich entsprechendes Personal vorhalten muss, ist das was anderes – aber man muss einfach mal gucken, wie viele Fälle haben wir wirklich, die echte Notfälle sind? Ich glaube, das ist viel wichtiger."
    Steigende Zahl der Notrufe auch durch weniger Hausärzte
    Daniel Overheu leitet die Telemedizin in der Universitätsklinik Oldenburg, die das Projekt wissenschaftlich begleitet. Die steigende Zahl der Notrufe, das hänge auch mit der schwindenden Hausarztversorgung zusammen, sagt Overheu:
    "Das, was den Menschen auch gerade im ländlichen Bereich immer wieder fehlt, ist der Kümmerer - und wenn sie mit ihrem Gesundheitsproblem nicht mehr weiter wissen, dann ist für viele die 112 quasi der Bereich, wo sie wissen, ich habe jemanden am anderen Ende, und der nimmt mein Anliegen erstmal auf. Ich bin mir persönlich vielleicht sicher, ich bin nicht der Notfall, der jetzt den Notruf mit Blaulicht braucht, aber ich weiß nicht: Wer kümmert sich denn jetzt um mein Problem?"
    Nicole Zimmermann, die Gemeindenotfallsanitäterin, würde sich gern kümmern – allerdings muss sich das Modellprojekt seit dem Start zu Jahresbeginn erst noch einspielen. Die Zahl ihrer Einsätze lässt sich bislang an zwei Händen abzählen:
    "Ich war bei einem Patienten, der war morgens gestürzt, und dann bin ich mittags dorthin gefahren, weil er dann erst irgendwie Schmerzen verspürte. Ich habe ihn untersucht und festgestellt, dass nichts gebrochen war und es sich wirklich nur um eine Prellung handelt. Mit dem habe ich dann darüber gesprochen, dass er zu seinem Hausarzt gehen könnte."
    In akuten Notfällen wird Notarzt nachalarmiert
    In einem anderen Fall war die Diagnose schwierig: Der Patient, ein älterer Herr, hatte hohes Fieber. Keine Behandlung in häuslicher Umgebung möglich, Überweisung ins Krankenhaus. In akuten Notfällen würde Zimmermann den Notarzt nachalarmieren – und umgehend mit der Ersthilfe beginnen. Die erfahrene Notfallsanitäterin glaubt an den Erfolg des Modellprojekts: Es wird Entlastung bringen, prophezeit sie, den Rettern vor allem, die im Notfall ausrücken, wenn es wirklich um Leib und Leben geht.
    "Wenn wir mit dem Rettungswagen zum Patienten kommen, den wir am Ende eventuell sogar zu Hause lassen, dann macht man sich schon seine Gedanken. Man fährt dann über vielleicht auch zehn Kilometer mit Blaulicht dorthin, und dann kommt da nur Husten, Schnupfen, Heiserkeit bei rum – dann ist das manchmal auch ein bisschen Frust, ja!"