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Projekt Icarus
Wenn die Amsel Daten ins All schickt

Im Projekt "Icarus" wollen Forscher mit Miniatursendern das Verhalten von Tieren weltweit beobachten und dabei auch Erkenntnisse über den Zustand der Erde gewinnen. Die Daten der Tiere werden zur Internationalen Raumstation ISS übertragen und dann an eine Bodenstation gesendet. Den Anfang macht die Amsel.

Martin Wikelski im Gespräch mit Sophie Stigler | 14.09.2020
Eine Amsel trägt einen der neuen, unter 5 g schweren ICARUS-Sender, die zukünftig über die ISS wertvolle Daten der Tiere in ihrer Umwelt an die Wissenschaftler übertragen.
Im Projekt "Icarus" haben Ornithologen mehrere tausend Amseln und Drosseln in Europa, Russland und Nordamerika mit kleinen Sendern ausgestattet und verfolgen von der ISS aus das Flugverhalten der Vögel (dpa-Bildfunk / MPI für Ornithologie / MaxCine)
"Icarus" ist eine internationale Kooperation zur Beobachtung von Tieren aus dem Weltraum (International Cooperation for Animal Research Using Space). Wohin fliegen Zugvögel, wohin wandern Elefanten - und wie geht es ihnen dabei? Diese Informationen sollen die Tiere selbst liefern. Dafür wollen die "Icarus"-Wissenschaftler unterschiedliche Tierarten mit Minisendern ausrüsten, die ihre Messdaten an die Internationale Raumstation ISS schicken. Diese übermittelt die Daten an eine Bodenstation, von dort gelangen sie an die Forscherteams und dienen der Verhaltensforschung, dem Artenschutz, der Erforschung der Ausbreitungswege von Infektionskrankheiten bis hin zur Vorhersage von ökologischen Veränderungen und Naturkatastrophen.
Nach einer mehrmonatigen Testphase beginnt nun das erste Kontinent-übergreifende wissenschaftliche Pilotprojekt, bei dem mehrere tausend Amseln und Drosseln in Europa, Russland und Nordamerika mit kleinen Sendern auf ihren Rücken vom Weltraum aus begleitet werden. Martin Wikelski ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie und hat das satellitengestützte Tierbeobachtungssystem gemeinsam mit der russischen Raumfahrtbehörde Roskosmos und dem Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) entwickelt.
Sophie Stigler: Herr Wikelski, dazu braucht man nur sehr viele Sender und eine Antenne im All. Eigentlich ganz einfach, oder?
Martin Wikelski: Eigentlich ist das ein einfaches System, das haben wir uns vor 19 Jahren auch gedacht, dass das eigentlich so toll ist, das müsste doch unmittelbar funktionieren. Und wir haben gedacht, in drei Jahren haben wir das oben im All, aber das hat eben leider länger gedauert. Aber jetzt funktioniert es. Das ist ein weltumspannendes Beobachtungssystem, im Prinzip so etwas wie ein Fitbit-Armband für Tiere, dass Tiere kleine Sender mitnehmen, die aufzeichnen, wie es ihnen geht und wie es der Umwelt geht, wo sie sind.
Rucksäcke und Capes für Vögel und Fledermäuse
Stigler: Dieses Tierbeobachtungssystem, von dem Sie da sprechen, heißt Icarus. Und diese Armbänder, die man dafür braucht, die können eine ganze Menge?
Wikelski: Ja, es kann feststellen, was mache ich gerade, wie geht es mir, wie ist der Luftdruck, wie ist die Temperatur, wie ist die Luftfeuchtigkeit, wie schnell bewege ich mich, in welche Höhe und so weiter, also wirklich genaueste Aufnahmen über das Tier und die Umwelt. Wir haben Erdbeobachter draußen, die für uns die Erde abscannen, damit haben wir ein intelligentes Sensornetzwerk für das Leben auf der Erde.
Stigler: Wie kann ich mir dieser Sender, diese Armbänder vorstellen, können Sie mir das kurz beschreiben?
Wikelski: Das ist im Prinzip so einen Zentimeter lang, da ist ein Solarpaneel drauf, dann ist da innen drin eben eine Elektronik und eine Batterie. Im Prinzip laufen die dann für immer mit dem Solarpaneel. Und dann kommt das als Rucksack auf einen Vogel oder als kleines Cape auf eine Fledermaus oder als Ohren-Tag an einen Elefanten oder ein Rhinozeros. Und dann schickt es Daten – und zwar immer dann, wenn die Internationale Raumstation ISS drüber kommt. Dann kriegt es ein Signal von der ISS, ich komme jetzt gleich, dann bereitet es die Daten vor, schickt die hoch. Und dann haben wir ein paar Stunden später diese Daten.
Installation der Icarus-Antenne an der ISS. Die Antenne ermöglicht es, die Bewegungen von Tieren auf der Erde zu beobachten.  
Installation der Icarus-Antenne an der ISS. Die Antenne ermöglicht es, die Bewegungen von Tieren auf der Erde zu beobachten. (NASA)
"System funktioniert 15 Mal besser als gedacht"
Stigler: Und an der ISS sitzt eine Antenne, die diese Daten im All empfängt. Und die ist auch nicht gerade klein, die ist so drei Meter lang, und leicht ist sie auch nicht mit so 150 Kilogramm. War das denn schwer, da eine Weltraumorganisation von zu überzeugen, ihr müsst dieses Ding mit auf eure Rakete nehmen und mal eben außen an die ISS hängen?
Wikelski: Ja, das war schon schwierig, das hat einige Jahre gedauert, aber wir haben mit den russischen Wissenschaftlern und der russischen Raumfahrtbehörde ganz tolle Partner – natürlich mit dem Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrum in Bonn zusammen. Und damit war das dann relativ gut machbar, eben einen schnellen Prototypen auf die ISS zu bekommen. Die russischen Partner waren da großartig über die Jahre, haben dann auch den Space Walk gemacht, also den Außeneinsatz, die Antenne anzuschrauben in sieben Stunden. Das war wirklich ein heroischer Aufwand, aber das funktioniert inzwischen sehr gut.
Stigler: Und nachdem die Antenne festgeschraubt war, wurde sie dann zum ersten Mal angemacht. Was war das für ein Moment?
Wikelski: Das war absolut großartig, wenn man dann zum ersten Mal sieht, das Ding läuft, funktioniert. Dann mussten wir aber noch mal ein paar Monate warten, bis es wirklich angeschaltet werden konnte. Und in der Zeit war dann ein Kondensator in der Stromversorgung kaputt gegangen, offensichtlich von der Weltraumstrahlung zerschossen. Das musste dann in einem riesigen, aufwändigen Verfahren wieder gerichtet werden, man musste den Computer ausbauen, wieder nach unten nehmen – nicht die Antenne abschrauben, das wäre ein totales Chaos gewesen –, aber der Computer innen, der die Daten verarbeitet, der musste runter nach Baikonur, nach Moskau, nach St. Petersburg, nach Deutschland und zurück.
Stigler: Das heißt, Sie haben das Ding erst ins All geflogen, dann ein Teil wieder runtergeholt, repariert, wieder hochgeflogen?
Wikelski: Genau, das ist ein Riesenvorteil natürlich bei der Raumstation, dass das möglich ist. Und dann haben wir einen Probebetrieb gehabt im Frühjahr. Dann muss man natürlich bisschen nachbessern, ein bisschen was einstellen. Es hat sich aber herausgestellt, dass das System ungefähr 15 Mal besser funktioniert als gedacht. Unsere Ingenieure haben da wirklich ganz großartige Arbeit geleistet. Und jetzt haut es hin.
Studie zum Zugverhalten von Amseln und Drosseln
Stigler: Jetzt geht es endlich los auch mit dem wissenschaftlichen Betrieb, und zwar mit alten Bekannten aus dem deutschen Garten, kann man sagen.
Wikelski: Genau, jetzt erst mal mit den Amseln. Und zwar wollen wir einfach mal verstehen, wie geht es den Singvögeln denn wirklich? Warum haben wir über die letzten 30 Jahre 20 Prozent unserer Singvögel verloren? Das ist ja wirklich massiv, das sind 7.000 Tonnen Singvögel, die uns da jedes Jahr in Europa abgehen, 420 Millionen Individuen, wo sind die geblieben, was passiert denen und wie können wir die schützen?
Stigler: Wie konkret sieht das jetzt aus, also, man hat 2.000 Amseln, die werden dann besendert, die bekommen diesen Rucksack. Und was guckt man dann?
Wikelski: Wir schauen jetzt von Spanien bis Moskau bis Kamtschatka über China hinweg, in Tibet, quer durch Amerika, wann wandern diese Amseln und Drosseln, welche Habitate nutzen sie, welche Temperaturen in der Umwelt sind für sie wichtig, wo überleben sie am besten, ab er vor allem auch: Wo sterben sie?
Eine Animation des Projekts ICARUS und seiner Funktionsweise.
Tiermigration aus der Vogelperspektive. (YouTube / Max-Planck-Gesellschaft)
"Informationen der Tiere nutzbar machen"
Stigler: Die Amseln sollen ja erst der Anfang sein. Wo soll es noch hingehen mit Icarus, was wäre noch alles denkbar?
Wikelski: Icarus soll auf der einen Seite ganz viele Tiere beobachten, aber auch andere Ereignisse wie zum Beispiel Gletscherschmelzen oder Geisternetze in den Ozeanen oder Bergrutsche irgendwo, wo sonst keine Verbindung ist.
Stigler: Das heißt, man würde Sender auf den Netzen befestigen oder auf dem Gletscher?
Wikelski: Genau! Und die Sender sind so klein, dass die nicht in den Gletscher einschmelzen, sondern die treiben so langsam mit dem Gletscher den Berg runter, man kann messen, wie sich der bewegt. Eigentlich alles, was wir als Menschen über die Welt wissen müssen, können wir als Erdbeobachtung über die Tiere messen und uns von den Tieren beobachten lassen.
Stigler: Jetzt ist es natürlich für die Forschung sehr praktisch, wenn man Tiere zu, ich sage mal, Messdienern machen kann. Aber auch wenn das nur wenige Gramm sind, so eine Amsel zum Beispiel muss das ja trotzdem als Rucksack mit sich rumtragen. Ist das gerechtfertigt, dass man Tiere für die Wissenschaft arbeiten lässt?
Wikelski: Ja, das ist immer eine ethische Überlegung. Das ist für uns ganz wichtig, dass wir die Tiere so wenig wie möglich belasten, aber natürlich belasten wir sie irgendwie ein bisschen, das ist schon klar. Wir wissen aber, sie überleben genauso gut wie ihre anderen, unbelasteten Kameraden, das haben wir alles getestet. Aber das Wichtige ist, dass wir diese Information, die uns Tiere geben, für die Menschen auch nutzbar machen – und damit zeigen, wie wesentlich und wie wichtig die Tiere für die Menschen sind. Und ich glaube, nur dann werden sie wirklich geschützt, wenn man zeigen kann, ja, die sind nicht nur schön, sondern die bieten auch für die Menschen ein unglaubliches Wissen, das für uns überlebenswichtig ist. Und das ist eigentlich genau das, was wir machen wollen, dass wir zeigen wollen: Der Kanarienvogel im Bergwerk, im Prinzip jetzt jedes Tier draußen kann uns sagen, was da passiert, kann uns helfen, die Welt besser zu verstehen und auch besser zu überleben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.