Montag, 29. April 2024

Archiv

Projekt in Süditalien
Die Stadt der Lagermusik

Der Musikwissenschaftler und Pianist Francesco Lotoro hat ein einzigartiges Archiv in Süditalien zusammengetragen: Es dokumentiert das Musikleben in NS-Lagern. Daraus soll nun in einer ehemaligen Destillerie die Stadt der Lagermusik entstehen. Ein Ort, der neben dem Archiv auch über ein Theater und einen Studien-Campus verfügen soll.

Von Thomas Migge | 16.10.2017
    Aufgeschalgendes Notenheft von der Seite fotografiert.
    Das Archiv beinhaltet nicht nur Musiken, sondern auch biografische Daten. (imago/McPHOTO )
    Lied "Heimatlos"
    Der Autor dieses traurigen Liedes mit dem Titel "Heimatlos" ist unbekannt. Man weiß nur, dass es in Buchenwald komponiert wurde.
    Viktor Ullmann komponierte zwischen 1942 und 43 in Theresienstadt dieses Chor-Arrangement von Liedern aus dem "Jüdischen Makabi-Liederbuch". Dieses Lied für Männerchor mit dem Titel "Az der Rebe Elimelech" hat einen Text von Moyshe Nadir, einem in der Ukraine gebürtigen jiddischen Dichter und Satiriker.
    Nadir gelang rechtzeitig die Flucht aus Europa in die USA, wo er 1943 in Woodstock starb. Der österreichische Jude Viktor Ullmann hingegen, Schönberg-Schüler und Assistent von Zemlinsky am Neuen Deutschen Theater in Prag und einer der interessantesten Komponisten seiner Zeit, starb 1944 in Auschwitz.
    Diese "Hymne der italienischen Gefangenen" komponierte der Italiener Lorenzo Lugli im Stalag Hammerstein. Ein Stalag war ein Stammlager zur Unterbringung von Kriegsgefangenen. In diesem Fall in der rheinlandpfälzischen Ortschaft Hammerstein. Lugli überlebte den Krieg. In Hammerstein war er als italienischer Kriegsgefangener interniert.
    Weltweit größtes Archiv für Musik aus Gefangenenlagern
    Francesco Lotoro kann dem Besucher stundenlang Werke von Komponisten vorspielen, die in Konzentrations- und Vernichtungs-, in Gefangenen- und Folterlagern, in Gulags und anderen Lagerformen, egal wie man sie in den verschiedenen Sprachen und Kulturkreisen nennt, arbeiteten, lebten, komponierten, überlebten und starben. Der Musikwissenschaftler hat in Jahre langer Such- und Forschungsarbeit das weltweit größte Archiv für "musica concentrazionaria", für Musik aus Gefangenenlagern, zusammen getragen. Nicht ohne dabei zahlreiche Hindernisse überwinden zu müssen. Am schwierigsten war es, erklärt Lotoro, die Nachfahren von Lagerinsassen ausfindig zu machen, um bei ihnen mehr über die jeweiligen Komponisten zu erfahren.
    Zunächst brachte Francesco Lotoro die gesammelten Kompositionen bei sich daheim unter, in seiner Wohnung im südapulischen Barletta, und dann in einem immer umfangreicher werdenden Archiv:
    "Als Musiker wurde mir immer mehr klar, dass ich etwa Sinnvolles tun musste, das über die reine Beschäftigung mit der Musik hinausgeht. Anfangs war mir nicht bewusst, auf was ich mich da einließ. Ich dachte ganz naiv, dass ich in wenigen Jahren 100 oder etwas mehr Kompositionen zusammen tragen könnte. Aus Auschwitz und Theresienstadt."
    Doch schnell begriff der zum Judentum konvertierte Lotoro, dass er mit seiner Forschungsarbeit eine Tür geöffnet hatte, die sich nicht schnell wieder schließen ließ, und die sein ganzes berufliches und privates Leben auf den Kopf stellen sollte:
    "Ich entschied von Anfang an, nicht nur nach musikalischen Werken zu suchen, also nach all dem, was schon bekannt und veröffentlicht wurde, sondern nach bisher unveröffentlichten Werken. Dafür versuchte ich die Nachfahren von Musikern und Komponisten, die in Lagern lebten und starben, zu kontaktieren. Um sie zu interviewen, und um auch herauszufinden, ob sie daheim noch weitere Kompositionen aufbewahren."
    Auf eigene Faust und privat finanziert
    Francesco Lotoro und seinen Mitarbeitern, allesamt Musikstudenten, die als Gratis-Volontäre das Mega-Sammelprojekt tatkräftig unterstützen, gelang es in 20-jähriger Arbeit mehr als 8.000 Kompositionen zu sammeln: Lieder, Chorwerke, Kompositionen für Soloinstrumente und Orchester, Kammermusik, Symphonien, Hymnen, Märsche etc. Zu jedem einzelnen Komponisten erstellten Lotoro und sein Team Künstlerbiografien - so weit das möglich war, denn von nicht wenigen Musikern ist nur sehr wenig oder auch gar nichts bekannt. So umfasst das weltweit größte Archiv für Lagermusik nicht nur musikalische Werke sondern ein ebenfalls einzigartiges biografisches Archiv. Nicht nur aus NS- oder faschistischen Lagern, sondern auch aus russischen Gulags und Gefangenenlagern nicht nur aus Europa, sondern auch aus Afrika, Asien und den USA.
    Auf eigene Faust und privat finanziert – Lotoro verschuldete sich für sein Forschungsprojekt haushoch – produzierte er bislang 24 CDs, ausschließlich mit Lagermusik aus europäischen Ländern. Alle Künstler, es handelt sich vor allem um Musiker apulischer Konservatorien, stellten sich für dieses CD-Projekt umsonst zur Verfügung.
    Ein Projekt, das jetzt endlich auch von öffentlicher Seite aus gewürdigt wird und tatkräftig unterstützt wird. Der italienische Ministerrat stellte bereits fünf Millionen Euro zur Verfügung. Die Region Apulien, in Sachen Kulturförderung beispiellos in Italien, will die Restgelder zur Verfügung stellen. Finanzmittel kommen jetzt auch von privaten Geldgebern. Mit diesen Finanzmitteln will Lotoro sich einen Traum erfüllen. Den Bau einer sogenannten Cittadella della Musica Concentrazionaria, einer Stadt der Lagermusik.
    "Stadt der Lagermusik"
    Architekt Nicoangelo Dibitonto präsentierte dafür kürzlich das Projekt:
    "Ich bin eng mit Lotoro befreundet und unterstütze seine Forschungsarbeiten. So entstand die Idee mit einer Stadt der Lagermusik. Dafür soll jetzt die ehemalige Destillerie von Barletta restauriert und umgebaut werden. Ein Ort, den hier jeder Bürger kennt, denn er befindet sich mitten in der Stadt."
    Das Projekt des Architekten Dibitonto sieht die komplette Nutzung der Ex-Destillerie aus dem frühen 20. Jahrhundert vor: Auf rund 9.000 Quadratmetern Nutzfläche wird es neben einem musikalischen Archiv mit den gesamten Werken aus den verschiedensten Lagern auch ein biografisches Archiv sämtlicher Komponisten und Musiker geben, die in Lagern wirkten. Darüber hinaus einen Bookshop, ein Theater, in dem vor allem die von Lotoro und seinem Team gesammelten Werke aufgeführt und präsentiert werden sollen. Es wird auch einen Studien-Campus für Lagermusik geben.
    Francesco Lotoro:
    "Wir nennen ihn den Campus der Musikwissenschaften. Die Università Cattolica in Mailand, die Uni in Bari und verschiedene andere Hochschulen, auch im europäischen Ausland, wollen dafür hier Masterstudiengänge organisieren. 2019 werden die ersten Sommerkurse stattfinden. Mit dem Ziel, die hier gesammelten Kompositionen zu studieren."
    Ein ehrgeiziges Projekt, für das etwa 15 Millionen Euro Gesamtkosten veranschlagt werden. Lotoro und sein Architekt sind fest davon überzeugt, dass das Geld dafür zusammen kommt. In den kommenden Monaten wird mit den Umbauarbeiten der ehemaligen Destillerie begonnen. Der Traum des Musikforschers konkretisiert sich.