Steuererklärung machen, die Wohnung putzen, für eine Prüfung lernen - Spaß macht das nicht. Also wird die unangenehme Aufgabe lieber am nächsten Tag erledigt. Wenn das wieder und wieder passiert, hat es Folgen. Mitunter sehr unangenehme. Ein Überblick, was es mit der Prokrastination auf sich hat und was man dagegen tun kann.
Was ist Prokrastination?
Man prokrastiniert, wenn man eine Sache verschiebt. Das Wort „prokrastination“ kommt vom lateinischen "procrastinatio", das „Vertagung auf morgen“ bedeutet.
Fred Rist, der ehemalige Leiter der Prokrastinationsambulanz der Universität Münster, drückt es so aus: "Prokrastination ist das gewohnheitsmäßige Aufschieben von geplanten Aufgaben, die für persönliche Ziele wichtig sind und die eigentlich in einer absehbaren Zeit zu Ende gebracht werden müssen".
Sachen auf den letzten Drücker zu erledigen, kennen wohl viele. Erst wenn dies "gewohnheitsmäßig" geschieht, wird es zu einem Problem. Dann können die Folgen für das Leben von Betroffenen erheblich sein. Ob sie an "Aufschieberitis" leiden, können Sie testen. Die Prokrastinationsambulanz hat einen Selbsttest entwickelt.
Prokrastination ist keine Krankheit in den gängigen psychotherapeutischen Klassifikationssystemen wie dem ICD. Sie kann aber als Teil einer psychischen Störung wie einer Depression, einer Angststörung oder ADHS auftreten.
Wenn Aufgaben immer wieder verschoben werden, kann es dabei zu negativen Rückkopplungen kommen: Je öfter eine Sache aufgeschoben wird, desto negativer beurteile ich mich selbst und desto höher wird die Wahrscheinlichkeit einer Depression.
Wen betrifft Prokrastination?
Prokrastinaton betrifft fast alle Menschen. Bei einer Umfrage der Universität Münster unter Studierenden behaupteten nur zwei Prozent der Teilnehmenden, niemals Dinge aufzuschieben.
Junge Menschen zwischen 14 und 29 Jahren neigen eher dazu, Aufgaben zu vertagen. In dieser Altersgruppe betrifft es mehr Männer als Frauen. Das ergab eine Studie der Universität Mainz.
Menschen ohne Arbeit prokrastinieren häufiger, genauso Singles. Ein weiteres Ergebnis: Wer gern Sachen verschiebt, gab häufiger an, öfter müde, depressiv, einsam oder gestresst zu sein.
Perfektionismus kann ebenfalls dazu führen, dass Dinge nicht erledigt werden. Der Psychologe Marc Stollreiter unterscheidet in seinem Buch "Aufschieberitis dauerhaft kurieren" verschiedene Typen:
- Der „Makellose“ will alles perfekt machen. Streng nach dem Motto: Entweder richtig oder gar nicht. Das führt allerdings manchmal dazu, dass Sachen gar nicht angegangen werden.
- Der "Nachdenker": Er will eine hundertprozentige Lösung finden. Da es die nicht gibt, vergeht die Zeit mit Grübeln.
- Der "Aktionist": Er kann nur unter Zeitdruck arbeiten und wundert sich dann, warum er so viel Stress hat.
Viel Zeit hingegen hilft nicht automatisch gegen Prokrastination. Entscheidend ist, wie die Zeit gegliedert ist.
Für Manfred Beutel, Direktor der Klinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Mainz, ist ein fehlender strukturierter Tagesablauf einer der wesentlichen Gründe, warum Menschen dazu neigen, Dinge wieder und wieder zu verschieben.
Warum prokrastinieren wir?
"Das Gehirn lernt, dass Aufschieben kurzfristig mit positiven Konsequenzen einhergeht", sagt der Psychotherapeut Stephan Förster. Die Anspannung, eine Aufgabe möglicherweise nicht erfüllen zu können, fällt angesichts der unmittelbaren Belohnung durch einen abgewaschenen Geschirrberg weg.
Die negativen Konsequenzen werden so lange verdrängt, bis sie sich nicht mehr leugnen lassen. Im schlimmsten Falle trainierten sich Betroffene Prokrastination regelrecht an, so Förster.
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Unser Belohnungssystem bestimme mit, wie wir Prioritäten setzen, sagt die Kognitionsforscherin Mareike Altgassen. Aufgaben, die keinen Spaß machen, werden eher vernachlässigt.
Es unterscheidet sich von Person zu Person, was prokrastiniert wird: endlich mal die Küche zu putzen, für die bevorstehende Klausur zu lernen oder einen unangenehmen Telefonanruf in Angriff zu nehmen.
Auch die Bedingungen der modernen Welt tragen dazu bei, dass mehr prokrastiniert wird. Autor Marc Stollreiter meint, das Phänomen habe die Ausmaße einer Volkskrankheit angenommen. Dank Digitalisierung ploppen ständig Nachrichten auf, die einen ablenken.
Außerdem verlangen die meisten Tätigkeiten heutzutage, dass man sich selbst organisiert. Wer am Fließband steht, kommt kaum in Verlegenheit, eine Aufgabe zu verschieben. Anders sieht das aus, wenn man selbst planen muss.
Welche Folgen hat Prokrastination?
Wie stark die Prokrastination ausgeprägt ist, bestimmt welche Folgen das Aufschieben für Betroffene hat. Wird nur hin und wieder eine Sache verschoben und letztlich erfolgreich beendet, sind die Auswirkungen überschaubar, etwa eine nicht so gute Seminararbeit oder ein Brief vom Finanzamt.
Es gibt auch Fälle, bei denen Betroffene in einen Teufelskreis aus Scham, Stress und Depression geraten. Sie haben einen starken Leidensdruck und fühlen sich als Versager. Wenn ein Mensch mindestens sechs Monate psychisch oder physisch darunter leidet, könne man von extremen Aufschieben sprechen, so Psychotherapeut Stephan Förster.
Das kann so weit gehen, dass man ein Studium nicht beendet, ein Job nicht bekommt oder der Freundeskreis vernachlässigt wird. Dann handelt es sich um „krankhaftes Aufschieben“. Das trifft auf rund zehn Prozent der Fälle zu. Bei extremen Fällen werden über einen langen Zeitraum Rechnungen nicht bezahlt oder der Gang zum Arzt wird trotz Erkrankung immer wieder verschoben.
Was lässt sich gegen Prokrastination tun?
Es gibt verschiedene Ansätze, um das Verschieben von Aufgaben zu vermeiden. Es hilft, das zu erreichende Ziel in verschiedene Teilziele aufzuteilen. Das sei eine "goldene Regel", so der Psychologe Johannes Hoppe - schließlich werde der Mount Everest auch nicht in einem Rutsch bestiegen; zuerst gehe es ins Basislager und dann in Etappen auf den Gipfel.
Auch die sogenannte ALPEN-Methode teilt die Arbeit in verschiedene Schritte ein: Zuerst die Aufgaben notieren, dann die Länge abschätzen, dabei Pufferzeiten einkalkulieren, Entscheidungen treffen und am Ende nachkontrollieren.
Die Prokrastinationsambulanz der Uni Münster bietet ein Training gegen "Verschieberitis" an. Dabei wird im ersten Schritt ermittelt, wie lange der Betroffene im Durchschnitt arbeitet. Länger darf nicht konzentriert an einer Aufgabe gearbeitet werden. Später wird die Zeit schrittweise verlängert.
Ein anderer Ansatz setzt auf Selbsterkenntnis. Das Prokrastinieren soll als Teil der Persönlichkeit akzeptiert werden.
Die Psychologin Lena Reinken hat die Prokrastinationspraxis an der FU Berlin gegründet und beschreibt das so: "Wir machen den Studenten zwei Angebote: Sie können entweder in einer Gruppentherapie lernen, an ihrem schlechten Gewissen zu arbeiten und das Aufschieben zu akzeptieren. Oder sie können lernen, sich nicht zu viel vorzunehmen."
Wenn die verschiedenen Ansätze nicht helfen und das Prokrastinieren das Leben ernsthaft und andauernd beeinträchtig, sollte eine Psycho- oder Verhaltenstherapie in Erwägung gezogen werden.
beb