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Propagandaschlacht um Südossetien

Im August 2008 eskalierte der Konflikt um das abtrünnige georgische Gebiet Südossetien. Die georgische Seite sprach von einer "russischen Aggression", Russland hingegen beschuldigte Georgien des "Völkermords" an den Südosseten. Was aber genau geschah, das ist nicht eindeutig geklärt. Die vorliegende Aufsatzsammlung will nun neue Erkenntnisse in die wüste Propagandaschlacht zwischen Georgien und Russland bringen.

Von Gesine Dornblüth |
    "Das letzte, was ich zur Zeit will, ist, über unsere eingefrorenen Konflikte zu sprechen. Vergessen Sie sie, wirklich. Sie zu lösen, ist unser Ziel, aber das sollte mit friedlichen Mitteln erreicht werden. Dieses Land hält noch einen gewalttätigen Konflikt nicht aus."
    Der georgische Präsident Micheil Saakaschwili Anfang 2005 in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Doch danach änderte er offenbar seine Meinung. Dass Georgien die Schuld am Krieg im August letzten Jahres trägt, steht für viele Autoren in diesem Band fest.
    Die georgische Regierung ließ es auf einen Krieg mit Russland ankommen. Damit wollte Präsident Michael Saakaschwili der Weltöffentlichkeit, vor allem aber der Europäischen Union und der NATO, die ungelösten Sezessionskonflikte in Südossetien und Abchasien wieder ins Bewusstsein bringen. Die georgische politische Führung und vor allem Präsident Saakaschwili suchten willentlich die militärische Auseinandersetzung mit Russland, und scheiterten an der unerwartet entschiedenen Haltung der politischen Führung in Moskau.
    Das schreibt der Publizist und langjährige Kaukasuskenner Aschot Manutscharjan in seinem Beitrag "Georgien suchte Krieg mit Russland". Manutscharjan belegt diese provokante These mit zahlreichen Zitaten georgischer Politiker. Was bisher häufig als Behauptung im Raum stand, wird durch seine Sammlung von Zitaten und Äußerungen georgischer Politiker greifbar.

    Manutscharjan hat gleich mehrere Aufsätze in dem Band geschrieben. Sie gehören zu den besten, denn der Autor stellt mit Akribie die Zitate und Äußerungen russischer Politiker gegen die georgischen und fügt so Teilchen für Teilchen zu einem klaren Gesamtbild zusammen. Russland stufte die Lage bereits im Frühjahr 2008 als explosiv ein und rechnete mit einer Militäroperation Georgiens, wie Manutscharjan ausführt.

    Moskau erwartete eine Militäroperation Georgiens. Der Oberkommandierende des nordkaukasischen Militärbezirks erhielt den Befehl, ohne Rücksprache mit Moskau auf jede georgische Provokation oder Verletzung der Vereinbarungen direkt, mit "maximalem Einsatz der Waffen", zu antworten. Der Kreml ließ zudem im Mai 2008 verlautbaren, die russischen Truppen würden auf keinen Fall tatenlos zusehen, sollten georgische Soldaten die Kontrollpunkte in den Konfliktregionen passieren.
    Herausragend ist auch ein weiterer Beitrag Manutscharjans, in dem er die georgische Innenpolitik von 1991 bis 1996 nachzeichnet. Neue Erkenntnisse präsentiert er zwar nicht, aber er ruft wichtige Tatsachen in Erinnerung. Zum Beispiel, dass die Abchasen noch Mitte der 90er Jahre zu einer Konföderation innerhalb Georgiens bereit waren. Das abchasische Suchumi und das georgische Tiflis sollten gleichberechtige politische Zentren innerhalb eines georgischen Staates sein. Georgien lehnte das damals ab. Heute, 15 Jahre später, schlägt die georgische Regierung genau das vor, doch nun wollen die Abchasen nicht mehr. Und Manutscharjan lässt keinen Zweifel daran, dass Georgien bereits Anfang der 90er Jahre zuerst zu den Waffen gegen Abchasen und gegen Südosseten griff. Den Befehl gab der damalige Präsident Eduard Schewardnadze.

    Am 18. August 1992 wurden unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung und der Vereitelung gegen die territoriale Integrität Georgiens gerichteter Sezessionsbestrebungen Truppen in die abchasische Haupststadt Suchumi entsandt. Mit dieser Aktion begann ein brutaler Krieg vor allem gegen die abchasische Zivilbevölkerung, der die georgische Militärregierung offen mit der Vernichtung drohte. In einem Schreiben unterstützte US-Präsident George Bush die Politik Schewardnadses. Demgegenüber nahm Moskau eine abwartende Haltung ein und reagierte nicht auf das Vorgehen der georgischen Truppen in Abchasien. Zugleich wahrten die in Abchasien stationierten Truppen strikte Neutralität.
    Russland war also - entgegen weit verbreiteter heutiger Darstellungen - keineswegs von vorn herein durchgehend auf der Seite der Separatisten. So deutlich liest man das selten.
    Insgesamt hilft die Aufsatzsammlung, den Krieg im August besser einzuordnen. Denn flankierend gibt es hintergründige Beiträge über die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland und über die russische Politik gegenüber den ehemals sowjetischen Nachbarstaaten; ein Autor bewertet das Geschehen militärisch, das ist neu; wieder ein anderer stellt die konkurrierenden Geschichtsauffassungen der Konfliktparteien gegenüber.

    Ein großes Problem dieses Buches ist, dass die meisten der insgesamt 16 Artikel schon vor Ausbruch des Krieges verfasst und im Nachhinein allenfalls flüchtig ergänzt wurden. Das führt teils zu ärgerlichen Widersprüchen innerhalb ein und desselben Beitrags.

    Geradezu ärgerlich ist der erste Beitrag von Gustav Gressel, Referent für Sicherheitspolitik im österreichischen Verteidigungsministerium. Seine wohl als Einführung gedachte Schilderung der Ereignisse steckt voller Fehler. Das Kodori-Tal in Abchasien war nicht seit 1994 unter georgischer Kontrolle, sondern erst seit 2006. Genau die Rückeroberung durch Georgien vor drei Jahren hatte ja zu einer Zuspitzung der Situation geführt. Grob fahrlässig ist es, zu erklären, die Ölpipeline vom aserbaidschanischen Baku in die Türkei sei das Ziel russischer Luftangriffe gewesen, denn gerade die wurde von den Russen ganz gezielt nicht bombardiert.

    Auf der Höhe der Ereignisse ist hingegen der Beitrag des Konfliktforschers Egbert Jahn. Klug lotet er die Handlungsoptionen der Europäischen Union gegenüber Georgien, Abchasien und Südossetien aus. Und er plädiert für die Anerkennung der Sezessionsgebiete durch die EU, im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung in den USA, der EU und dem Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen.

    Mittlerweile hat sich erwiesen, dass Völker oft leichter miteinander im Frieden leben, wenn sie nicht in einen gemeinsamen Staat gezwängt werden, sondern sich in eigenen Staaten zum nachbarschaftlichen Frieden motivieren oder gar in der Zukunft in der Europäischen Union auf einer überstaatlichen Ebene kooperieren können.

    Die Nato wird sich schon bald erneut mit den Beitrittswünschen Georgiens beschäftigen müssen. Die ungelösten Konflikte bleiben auf der Tagesordnung. Wer sich dazu eine differenzierte Meinung bilden will, kommt - trotz der genannten Mängel - an diesem Aufsatzband nicht vorbei.

    Gesine Dornblüth über Die Sezessionkonflikte in Georgien, herausgegeben von Erich Reiter, erschienen im Böhlau-Verlag, 329 Seiten für 39 Euro.