Dienstag, 16. April 2024

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Prophet des Schreckens. George Orwell zum hundertsten Geburtstag

Big Brother ist eine Fernsehserie, "Orwell" ist gar ein Modelabel geworden, - und doch bleibt George Orwell ein großer Unbekannter. Nach dem Erfolg seines politischen Märchens "Farm der Tiere" und erst recht des Romans "1984" ist er ins allgemeine Bewusstsein eingegangen als Kritiker des Totalitarismus, d.h. meistens einfach nur als Antikommunist. 1950, ein Jahr nach Erscheinen von "1984" ist er an Tuberkulose gestorben und konnte sich nicht mehr dagegen wehren, vom Kalten Krieg vereinnahmt zu werden. Dabei war seine Stärke ein differenziertes, unbestechliches Denken, das sich gegen jede Form der Unterdrückung wandte. Farm der Tiere , diese Parabel auf den Verrat der Mächtigen im Verlauf einer Revolution - und eben nicht auf Revolutionen allgemein - schrieb er 1943, in einer Zeit, als in England Kritik am Stalinismus alles andere als opportun war, denn die Sowjetunion war Alliierter im Kampf gegen Hitlerdeutschland. Was Orwell besonders erboste, war nicht nur, dass er Mühe hatte, einen Verleger für seine Animal Farm zu finden, sondern, dass die englischen Medien in jener Zeit sogar die Lügen der sowjetischen Propaganda übernahmen. In seinem Essay "Die Pressefreiheit" schrieb er dazu:

Eva Pfister | 23.06.2003
    Um nur ein Beispiel zu nennen: Die BBC feierte den 25. Jahrestag der Roten Armee, ohne Trotzki zu erwähnen. Das ist in etwa genauso akkurat, wie der Schlacht von Trafalgar zu gedenken, ohne Nelson zu erwähnen, aber es löste bei der englischen Intelligenz keine Proteste aus.

    Ein wichtiges Thema im Roman "1984" ist denn auch die ideologische Herrschaft über die Vergangenheit. In diesem Terrorstaat wird in einem eigenen Ministerium, das natürlich Wahrheitsministerium heißt, die Geschichte ständig den aktuellen Anforderungen angepasst; ganze Archive werden umgeschrieben. Vorbild dafür war das Auslöschen von Trotzki und anderen aus der Geschichte, wie es in der Sowjetunion unter Stalin geschah.

    In der Rezeption dieser weltberühmten Negativutopie spielt jedoch der Überwachungsstaat die größere Rolle. In Orwells Schreckensszenario werden die Bürger an jedem Ort von einem sogenannten Teleschirm beobachtet, der Radioempfänger und Überwachungskamera zugleich ist. An jeder Hauswand klebt ein Plakat mit der Aufschrift: "Big Brother is watching you", was dann eben zum Titel der Fernsehserie "Big Brother" führte.

    George Orwell hat die Sowjetunion nie besucht und dennoch ihre Unterdrückungsstrategien am eigenen Leib erfahren. Und zwar im Spanischen Bürgerkrieg, an dem er teilnahm, um die Republik gegen Francos Putschisten und gegen den Faschismus zu verteidigen. Zufällig kam er zu einer Miliz, die politisch den Linkssozialisten nahe stand. Und aus diesem Grund wäre er beinahe ein Opfer der Säuberungen geworden, die nach den internen Machtkämpfen in Spanien von den Kommunisten durchgeführt wurden. Nicht aus "1984", sondern aus "Mein Katalonien", seinem persönlichen Bericht über den Spanischen Bürgerkrieg, stammt folgendes Zitat:

    Während der letzten Wochen, die ich in Barcelona verbrachte, lag ein eigentümliches, böses Gefühl in der Luft, es war eine Atmosphäre des Misstrauens, der Furcht, der Ungewissheit und des verhüllten Hasses. Die Maikämpfe hatten unausrottbare Folgen hinterlassen. Obwohl man sich in Wirklichkeit nicht an einer Verschwörung beteiligte, zwang einen doch die Atmosphäre, sich wie ein Verschwörer zu fühlen. Es hatte den Anschein, als verbrächte man seine Zeit damit, geflüsterte Unterhaltungen in den Ecken der Cafés zu führen, während man sich gleichzeitig fragte, ob die Person am Nebentisch nicht ein Polizeispion sei.

    Aber auch diese Erfahrung war nicht die erste in Sachen Überwachungsstaat. Aus einer noch früheren Zeit überlieferte George Orwell ein prägendes Erlebnis:

    Ich erinnere mich an eine Nacht, die ich mit einem Unbekannten, dessen Namen ich nie erfuhr, im Zug verbrachte. Es war zu heiß zum Schlafen, und wir verbrachten die Nacht mit Gesprächen. Eine halbe Stunde vorsichtiger Ausfragerei überzeugte uns beide, dass der andere "dicht" war; und dann verdammten wir stundenlang, während der Zug langsam durch die pechschwarze Nacht holperte, in unsern Kojen sitzend, Bierflaschen in der Hand, das britische Imperium – wir verdammten es von innen her, verständnisvoll und gründlich. Es tat uns beiden gut. Aber wir hatten verbotene Dinge gesagt, und im fahlen Morgenlicht, als der Zug in Mandalay einfuhr, gingen wir so schuldbewusst auseinander wie ein ehebrecherisches Paar.

    Diese Erinnerung findet sich im Buch "Der Weg nach Wigan Pier" und es bezieht sich auf die Zeit, die Orwell als Kolonialpolizist in Burma verbrachte. Die fünf Jahre waren für den Schriftsteller George Orwell prägend, gerade weil er sich aus einem völlig anderen Hintergrund, aus einer gegensätzlichen Mentalität heraus und im Widerspruch zu ihr zu einem sozialistischen Intellektuellen hin entwickelte. Nicht nur seinen Schriftstellernamen George Orwell hat er sich selbst gegeben, insgesamt hat der Autor und Denker sich seine Identität selbst geschaffen.

    Geboren ist der Mann, dessen 100. Geburtstag wir heute feiern, am 25. Juni 1903 als Eric Arthur Blair in Britisch Indien. Sein Vater war dort Kolonialbeamter im Opium-Department, denn das British Empire handelte damals rege mit Opium. Aufgewachsen ist Eric Blair in England, als Stipendiat verbrachte er eher demütigende Jahre in einer Privatschule, dann im renommierten Eton College. Seine Noten berechtigten ihn jedoch nicht zu einem Stipendium für die Universität, und das mag der Grund gewesen sein, dass er sich für den Polizeidienst in Burma meldete. Als 19jähriger kam er dorthin, 1927, während seines ersten Heimaturlaubs, beantragte er seine Entlassung. Von da an wollte der 24jährige Eric Blair nur noch Schriftsteller sein, konnte allerdings noch lange nicht davon existieren.

    Es war in dieser Zeit, als Orwell seine Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse und den Armen zuwandte, und dies nicht nur theoretisch. Als Tellerwäscher in Paris und als Tippelbruder in England lebte er – und hungerte auch zuweilen - mit den Ausgebeuteten und den Arbeitslosen, mit Wanderarbeitern und Obdachlosen. Was ihn dazu brachte, schilderte er ebenfalls in "Der Weg nach Wigan Pier":

    Ich fühlte, dass ich nicht nur dem Imperialismus entrinnen musste, sondern jeder Form der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Ich wollte untertauchen, um geradewegs zu den Unterdrückten zu gelangen, um einer von ihnen zu sein und auf ihrer Seite zu stehen gegen die Tyrannen. Und ich hatte meinen Hass gegen die Unterdrückung, vor allem, weil ich alles in der Einsamkeit ausdenken musste, auf ungewöhnliche Höhen gebracht. Damals erschien mir das Scheitern als einzige Tugend.

    Aber gerade aus dieser Haltung ist der erste Erfolg für den Schriftsteller entstanden, nämlich das Buch "Erledigt in Paris und London". 1933 ist der Schriftsteller George Orwell in der Öffentlichkeit erschienen, mit seinem Bericht über selbsterfahrene Armut und Ausbeutung, der doch im Grunde eine große Reportage ist. Denn zugegebenermaßen konnte Eric Blair jederzeit zu seinen Eltern zurückkehren, ein Bad nehmen und sich satt essen. Er fühlte sich oft selbst wie ein Schauspieler, wenn er seine Bekannten um alte Kleider bat, diese noch zusätzlich verschmutzte und ins East End zu den Asylen aufbrach. "Erledigt in Paris und London" ist aber nicht nur ein faszinierendes Zeitdokument von den Schattenseiten der beiden Großstädte um 1930, es überrascht auch durch äußerst aktuell anmutende Reflexionen zum sozialen Stellenwert von Arbeit und zu den Vorurteilen gegen Arbeitslose.

    George Orwell begann in dieser Zeit auch mit dem Schreiben von Zeitungsartikeln und Essays. Zunächst aber musste er sich sein Geld noch als Lehrer, später als Buchhändler verdienen, während er zwei weitere Romane schrieb. Der eine, "Die Pfarrerstochter", ist heute vergessen, der andere hingegen ist ein Klassiker der Imperialismuskritik geworden. "Tage in Burma" ist eine böse, scharfsinnige, aber auch witzige Abrechnung mit dem Kolonialismus britisch-indischer Prägung. Dem Helden des Romans, Flory, gelingt der Absprung aus dem Kolonialdienst nicht. Nach sechzehn Jahren Arbeit im Holzhandel ist er wie die meisten Engländer in Burma ein verbitterter Alkoholiker, nur dass er seinen Frust nicht in Hass auf die Einheimischen umleitet. Statt dessen nährt er einen eigenbrötlerischen Grimm auf die Herrschaft der Engländer. George Orwell schildert in "Tage in Burma" das Land mit Poesie und großer Liebe, er dokumentiert exakt die Situation der Kolonialherrschaft und beschreibt eindringlich deren psychische Folgen auf Unterdrücker wie Unterdrückte. Im Unterschied zu Orwell selbst hat sein Held Flory jedoch einen Gesprächspartner, einen indischen Arzt, mit dem er sich über den Imperialismus streitet, paradoxerweise mit vertauschten Rollen. Während der Inder die Briten bewundert und verteidigt, setzt Flory alles daran, ihn zu widerlegen:

    Mein lieber Doktor, wie können Sie beweisen, dass wir zu einem anderen Zweck als zum Stehlen in diesem Lande sind? Es ist so einfach. Der Beamte hält den Burmanen nieder, während der Geschäftsmann seine Taschen ausräumt. Glauben Sie, dass meine Firma zum Beispiel ihre Holzverträge bekommen könnte, wenn das Land nicht in der Hand der Briten wäre? Oder die anderen Holzfirmen oder die Ölgesellschaften oder die Grubenbesitzer und Pflanzer und Händler? Wie könnte der Reis-Ring den unglücklichen Bauern weiter rupfen, wenn die Regierung nicht hinter ihm stünde? Das britische Empire ist einfach eine Einrichtung, um den Engländern – oder vielmehr den Gangsterbanden von Juden und Schotten – Handelsmonopole zuzuschanzen.

    Natürlich stolpert man über den rassistischen Ausrutscher – und fragt sich, ob er nur der Romanfigur zuzuschreiben ist oder auch dem Autor. Tatsächlich ist bekannt, dass Orwell eine Menge Vorurteile pflegte, auch gegen Homosexuelle, Feministinnen und Vegetarier. Aber seine Ambivalenz macht auch seine Qualität aus. Orwell musste sich zu seinen politischen Erkenntnissen durchringen, er kämpfte immer auch gegen die Klassenvorurteile in sich selbst. Ein britischer Herrenmensch steckte in ihm – nicht zufällig wählte er für sein Pseudonym den Nationalheiligen der Briten, George, zum Vornamen, dem er den Namen eines Flüsschens aus der lieblichen Landschaft Ostenglands anfügte: Orwell.

    Zu seiner Entwicklung gehörte auch, dass Orwell alles am eigenen Leib erfahren musste, bevor er sich zu einem Urteil durchrang. So kam es zu dem seltsamen Buch "Der Weg nach Wigan Pier", das im ersten Teil eine hervorragende Reportage über die Lage der englischen Bergarbeiter enthält, an die sich lange Reflexionen über Orwells eigenen Weg zum Sozialismus anschließen. Sein Verleger war damals entsetzt, und Orwell konnte nur mühsam durchsetzen, dass der Text in der Form erscheinen konnte. Heute jedoch lesen wir "Der Weg nach Wigan Pier" als faszinierendes Dokument eines Mannes, der keine Anstrengung scheute, um zu seiner Wahrheit zu gelangen.