Freitag, 19. April 2024

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Protest-Fotografie
Selfies sind die neuen Flugblätter

4000 Fotos werden pro Sekunde bei Facebook hochgeladen. Besonders die Zivilgesellschaft greift zu diesem Mittel, um auf sich aufmerksam zu machen - und der Bild-Protest verselbständigt sich: "Memes sind die Protestplakate des 21. Jahrhunderts", sagte Kunsthistorikerin Kerstin Schankweiler im Dlf.

Kerstin Schankweiler im Corsogespräch mit Ulrich Biermann | 25.10.2019
Das Foto des ertrunkenen syrischen Flüchtlingskindes Aylan Kurdi dient als Vorlage für ein gesellschaftskritisches Graffiti, das am 11.03.2016 auf der Osthafenmole in Frankfurt am Main (Hessen) zu sehen ist. Rund 40 Stunden haben die Künstler Justus Becker und Oguz Sen an dem rund 120 Quadratmeter großen Motiv gearbeitet. Foto: Arne Dedert/dpa | Verwendung weltweit
Vielleicht das letzte ikonenhafte Protest-Bild: Die Aufnahme des toten syrischen Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi wurde zum Graffiti in Frankfurt/Main (Arne Dedert / picture alliance)
Kerstin Schankweiler ist Inhaberin der Professur "Bildwissenschaft im globalen Kontext" der Technischen Universität Dresden und hat mit "Bildproteste. Widerstand im Netz" jetzt eine kleine, kundige Analyse der visuellen Dokumentation von Protesten vorgelegt.
Neue Ästhetik, ohne Kontrolle
Besonders die Sozialen Medien werden zum Informationskanal, alle Protestbewegungen arbeiten mit Bildern und verbreiten sie unüberschaubar im Netz, wie Schankweiler schreibt. Diese Bilder stammen kaum mehr von Profis, sondern wurden von Userinnen, Usern oder Aktivisten aufgenommen.
Wir haben noch länger mit Kerstin Schankweiler gesprochen – hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs
Damit geht eine neue Ästhetik einher: "Manchmal kann man gar nicht genau darauf erkennen, was eigentlich passiert ist," sagte Schankweiler im Dlf, "aber mit diesen neuen Bildpraktiken ist ein neues Authentizitätsversprechen verbunden - und das, obwohl in der Geschichte der Fotografie immer der Wahrheitsanspruch der Bilder hinterfragt wurde". Bilder von staatlicher Gewalt oder Aufrufe zu Demonstrationen seinen von einer subjektiven Sichtweise geprägt, schlimmstenfalls sei noch nicht einmal verifizierbar, ob die aufgenommen Bilder und Videosequenzen im genannten Kontext entstanden seien.
Die Kunsthistorikerin merkte an: "Die Bilder gehen heute mit einer großen politischen Ambivalenz einher, sie werden sich auch angeeignet und richten sich manchmal auch gegen die, die sie ursprünglich gepostet haben."
Am 5. Juni 1989 stellt sich ein Mann weinend vor die Panzer auf dem Tiananmen Platz in Peking. Er fleht darum, dass das Töten in Chinas Hauptstadt ein Ende nimmt. Außenstehende zogen ihn weg bevor die Panzer auf dem Cangan Boulevard am Beijing Hotel weiterrollen.
Am 4. Juni stellt sich ein Mann weinend vor die Panzer auf dem Tiananmen Platz in Peking. Er fleht darum, dass das Töten in Chinas Hauptstadt ein Ende nimmt. (pa/Keystone/ap/Jeff Widener)
Immer wieder tauchten bei diesen "Bild-Protesten" Videos und Aufnahmen auf, denen man die Vorlagen ansehe. In ihrer Untersuchung hat Kerstin Schankweiler festgestellt: "Bekannte, berühmte Protest-Ikonen werden reenacted, widerholt, nachgestellt. Ich nenne das die Mimification der digitalen Bild-Popkultur." Es gehe nicht mehr um Einzelbilder oder Sequenzen, sondern ein Netzwerk von Bildkulturen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Kerstin Schankweiler: "Bildproteste. Widerstand im Netz"
Wagenbach Verlag, Berlin 2019. 80 Seiten, 10 Euro.