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Protestaktionen gegen religiöse Bevormundung

Die Einwohner in Äthiopien sind etwa zu zwei Dritteln Christen und einem Drittel Muslime. Die Verfassung garantiert allen Religionsgemeinschaften im Land Religionsfreiheit. Doch seit die Regierung eine bestimmte Gruppe im Islam bevorzugt, sehen sich viele Muslime in ihrer Religionsfreiheit eingeschränkt.

Von Benno Müchler | 27.06.2012
    Hundert Meter - näher ran geht es nicht mehr. Die Polizei hat das Gelände großräumig umstellt. Ein Sicherheitsmann hat die Personalien der beiden Reporter und ihrer äthiopischen Übersetzerin aufgenommen. Ansage: "Entweder ihr verschwindet hier jetzt oder ihr geratet in Schwierigkeiten." Ein Reporter von Voice of America, der über den gleichen Protest von Muslimen in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba berichtet, wird später festgenommen und bis zum nächsten Tag eingesperrt. Der jüngste Vorfall einer Kette von Ereignissen, auf die die äthiopische Regierung immer empfindlicher reagiert.

    Seit sechs Monaten demonstrieren Muslime in ganz Äthiopien gegen das, was sie einen Eingriff in ihre Religionsfreiheit nennen. Sie beschuldigen die Regierung, ihnen eine islamische Sekte, die Al-Ahbash, aufzuzwingen und alle Muslime, die da nicht mitmachen wollen zu bestrafen.

    Vor der Anwar Moschee, der größten Moschee in Addis Abeba, versammelt sich eine aufgebrachte Schar Muslime, als sie nach ihrer Meinung über Al-Ahbash und die Regierung gefragt werden. Omer Ahmed ist einer von ihnen:

    "Es macht mich sehr traurig, dass die Regierung vergessen hat, wofür sie einmal gekämpft hat. Gedankenfreiheit, Religionsfreiheit. Dafür hat sie ihr Blut vergossen. Heute versucht sie uns, eine neue Sekte aufzuzwingen. Aber das wird nicht funktionieren. Das wird die Regierung nicht schaffen. Glaube ist für mich eines der höchsten Dinge. Ich würde eher zehnmal mein Leben opfern, als den Glauben aufzugeben, den ich in mir trage."

    Scharfe Töne in einem Land, dessen Bürger sonst höchst vorsichtig mit Kritik gegen die Regierung umgehen, weil man dafür schnell im Gefängnis landen kann. Bislang waren Äthiopiens Muslime der Regierung mehrheitlich positiv gesinnt. Denn seit die Regierung an der Macht ist, sind Muslime im orthodox-christlichen Äthiopien keine Bürger zweiter Klasse mehr. Doch das habe sich jetzt wohl geändert, sagt Ahmed Mustafa Habib, ein anderer Regierungsgegner und Protestführer:

    "Wenn Du Al-Ahbash nicht akzeptierst, dann nennen sie Dich einen Terroristen und greifen Dich an. Deshalb lehnen wir Al-Ahbash ab."

    Vor rund einem Monat kündigte Premierminister Meles Zenawi im Parlament den Kampf gegen radikal-islamistische Terroristen an. Sie stellten für das Land eine Bedrohung dar. Tatsächlich ist der konservative Islam in Äthiopien, wie der Wahhabismus, seit 1991 durch Gelder von gemeinnützigen Organisationen in Saudi Arabien und den Golfstaaten gewachsen. Ob es unter ihnen jedoch wirklich Terroristen gibt, ist schwer nachweisbar.

    Bislang hat die Regierung mehrere Korangelehrte verhaftet. Bei einem Vorfall gab es vier Tote. Auslöser der Proteste vor sechs Monaten war die Schließung der islamischen Missionsschule Awolia in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba. Die Regierung verdächtige die Schule, radikales Gedankengut zu predigen und ließ darauf rund 50 Lehrer entlassen. Das tat sie jedoch nicht selbst, sondern ließ die Entlassungen durch den Obersten Rat für Muslime aussprechen, der eigentlich unabhängig sein und die muslimische Gemeinde Äthiopiens repräsentieren soll. Ein Aufschrei ging durchs Land. Ein Komitee bildete sich. Ahmed Mustafa Habib steht dem Komitee vor und nennt die Forderungen der Muslime:

    "Wir haben drei Punkte: Es muss demokratische Wahlen des Obersten Rates geben. Zweitens: Es muss aufgehört werden, uns die Al-Ahbash aufzuzwingen. Drittens: Die Awolia Missionsschule ist für die Gemeinde. Die Gemeinde soll entscheiden, ob sie sie weiter haben will."

    Der Zorn der Muslime entspringt weniger an den Verhaftungen und Entlassungen. Niemand will Terroristen im Land. Doch die Regierung zwinge sie, sich der gemäßigten, im Sufismus begründeten Al-Ahbash-Sekte anzuschließen, um dadurch Fundamentalismus weiter an Nährboden zu entziehen. Auf die Frage, ob an diesem Vorwurf was dran sei, reagiert der zuständige äthiopische Regierungsminister für Innere Angelegenheiten, Shiferaw Teklemariam, gereizt.

    "Diese Frage stellt sich nicht einmal! Die Regierung hat keine Absicht und keinen Grund, diese oder jene Sekte zu unterstützen. Um was zu erreichen? Das ist eine Mutmaßung, ein Hirngespinst."

    Die Fakten sprechen jedoch eine andere Sprache. 2011 organisierten die Regierung und der Oberste Rat der Muslime mindestens zwei Veranstaltungen – eine davon mit über 1000 Teilnehmern, unter ihnen die Vertreter aller muslimischen Gemeinden Äthiopiens. Auf dem Treffen hielten die geistigen Führer der im Libanon beheimateten Al-Ahbash-Sekte Vorlesungen. Minister Teklemariam bestätigt die Treffen sowie dass er an ihnen selbst teilgenommen habe. Allerdings sei es der Regierung dort nicht um die Förderung von Al-Ahbash gegangen, sondern um eine Informationsveranstaltung in Verfassungsangelegenheiten, sagt er. Der Schutz ihrer Bürger, sei doch die Aufgabe der Regierung:

    "Natürlich kooperieren wir mit religiösen Institutionen in Angelegenheiten, die uns zusammenbringen. Wir arbeiten zusammen bei der Friedensbildung, bei der Entwicklung."

    Doch Muslime und Islamwissenschaftler sagen, das Engagement der Regierung ginge noch weiter. Muslime erzählen von obligatorischen Workshops. Mit bis zu 28 Dollar pro Teilnahme wollen sie gelockt worden seien, sagen sie, und jene, die sich geweigert hätten, seien verhaftet worden, berichtet der Korrespondent des Bloomberg-Nachrichtendienstes über Gerüchte in der muslimischen Gemeinde.

    Jon Abbink, Anthropologe an der Universität Leiden, forscht seit vielen Jahren über die muslimische Gemeinde in Äthiopien. Er sagt, die Regierung habe natürlich wie jede andere das volle Recht, seine Bürger gegen Terrorismus zu schützen, wenn es gefährliche Strömungen im Land gebe, woran Abbink keinen Zweifel hat. Doch so wie es die Regierung getan habe, habe sie mehr Unheil gestiftet als verhindert, sagt er:

    "Auch wenn Al-Ahbash eine legitime, islamische Strömung sein mag und einige Anhänger in Äthiopien hat, denke ich, war es ein Fehler der Regierung, allen Muslimen in Äthiopien eine bestimmte Version des Islams aufzuzwingen."

    Warum die Regierung erst jetzt gegen mutmaßliche Terroristen vorgeht, wo sie doch so lange untätig war und Äthiopien allgemein bekannt für das friedliche Zusammenleben seiner verschiedenen Religionsgemeinschaften ist, darum ranken sich viele Gerüchte. Eines der größten ist der Einfluss der Amerikaner, die zu den wichtigsten Gebern im Land gehören und ein stabiles Äthiopien im sonst instabilen Horn von Afrika haben wollen. Die Internetplattform Wikileaks hat eine diplomatische Geheimbotschaft von 2008 veröffentlicht, in der amerikanische Beamte über mögliche Programme gegen radikal-islamistische Fundamentalisten in Äthiopien sprechen. Der ehemalige amerikanische Botschafter in Äthiopien, David Shinn, glaubt in der Al-Ahbash-Affäre jedoch nicht an den Einfluss der Amerikaner. Er ist aber sehr besorgt darüber, dass sich die Proteste der letzten Wochen weiter ausbreiten könnten. Eine beunruhigende Vorstellung. Muslime repräsentieren ein Drittel der Bevölkerung Äthiopiens:

    "Und wenn sich die Regierung in Religionsangelegenheiten tatsächlich immer stärker einmischt, dann sollte sie sehr vorsichtig sein, denn das ist ein hoch sensibler Bereich. Hier geht es um ethnische Fragen, von denen man besser die Finger lässt, wenn man es vermeiden kann."