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Protestantischer Protest

In den evangelischen Kirchen und Gemeindesälen der DDR trafen kurz vor der Wende Politische auf Atheisten und Punks auf Stasi-Spitzel. Friedensgebete und Umweltgottesdienste wurden abgehalten. Die friedliche Wende bekam so eine konfessionelle Grundierung.

Von Hans-Joachim Neubauer | 03.10.2012
    Im Schutz der Kirchenmauern formierte sich das besondere Milieu aus religiös Motivierten, politisch Engagierten und intellektuellen Aktivisten. Hier war Platz für einen von den Staatsorganen nur schwer zu kontrollierenden Austausch, auch zwischen den unterschiedlichen Gruppen.

    "Ich werde nie vergessen: In Halle gab es einen Pfarrer, einen Korpsstudenten von mir, der sehr eng mit diesen Gruppen verbunden war, auch mit den Randgruppen der Gesellschaft."

    Peter Maser kennt sie gut, die 80er-Jahre in der DDR, die Zeit der Bürgerrechtsbewegung, der politischen Gottesdienste, der Friedenskreise und Widerstandsgruppen. Er hat sie erlebt, er hat sie erforscht.
    "Wenn man zu dem in den Gottesdienst kam, dann war eine klare Teilung: Rechts saß die traditionelle Gemeinde, und links saßen die wilden Gestalten im Parka, mit den langen Haaren und so weiter und so fort, und dieser Pfarrer musste versuchen, das nun alles irgendwie zusammenzuhalten."

    Maser weiß genau, wer damals was wie zusammenhielt. Der in Halle geborene, in Münster habilitierte Kirchenhistoriker hat die wilden Gestalten im Parka und die friedliche Wende von 1989 untersucht. Welchen Anteil hatten die Konfessionen am Widerstand? Welche Rolle spielte die evangelische Kirche bei der Überwindung des SED-Regimes? Und war es am Ende der christliche Glaube, der das sozialistische System niederzwang? Zumindest machte schon damals das Wort von der "protestantischen Revolution" die Runde. Zu Recht?
    "Protestantisch war das Unternehmen schon dadurch, dass eben ganz wesentliche Kräfte, die die Bewegung 89 getragen haben, entweder in direktem Zusammenhang mit den evangelischen Kirchen standen oder doch zumindest unter dem immer wieder erwähnten Schutzdach der Kirchen operierten und dadurch enge Beziehungen hatten."

    Zunächst schlüpften die Pazifisten und Wehrdienstverweigerer unter dieses Dach, nach und nach kamen weitere hinzu: Bürgerrechtler, Homosexuelle, Alkoholiker. Nicht mit allen war die offizielle Kirche einverstanden.
    "In dem Moment, wo die Politisierung, die Differenzierung begann, wurde die Sache sehr viel schwieriger, weil sowohl in den Gemeinden wie auch bei den Kirchenleitungen, aber auch bei den Synoden so manches Anliegen letzten Endes als Privatangelegenheit einzelner betrachtet wurde. Weswegen sollen wir uns hier gleichsam mit entblößter Brust in den Kampf stürzen, weil einige wenige dieses oder jenes Anliegen so außerordentlich wichtig finden. Von daher war das Verhältnis zwischen den entstehenden Bürgerrechtsbewegungen und den Kirchenleitungen, den Synoden, aber auch den Gemeinden immer ausgesprochen spannungsvoll."

    Am Ende entschieden die Gemeinden autonom, wem sie ihre Türen öffneten. In den Kirchen und Gemeindesälen trafen Intellektuelle auf fromme Gläubige, Politische auf Atheisten, Punks auf Stasi-Spitzel. Als junger Theologe war Stephan Bickhardt Mitglied der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung. Heute arbeitet er als Polizeipfarrer in Leipzig.
    "Wir waren in einigen Gruppen begeistert davon, was in Polen geschehen ist, natürlich auch, was in Prag geschehen ist. Ich gehe jetzt mal nur auf Polen ein, dieses Konzept der parallelen Gesellschaft, dass man sich also nicht mehr so sehr um die da oben kümmert, sondern dass man einen eigenen Lebensentwurf in Verbindung mit christlichen Gemeinden auf die Beine stellt, mit christlichen Initiativen. Das ist etwas, wofür wir gelebt und gearbeitet haben."

    So zogen Bickhardt und weitere Mitstreiter in die Tagebaugebiete südlich von Leipzig und hielten im Braunkohlenwerk Espenheim Umweltgottesdienste ab. Beten für den Umweltschutz – auch das war in der DDR politisch. Aber muss man die Wende deshalb schon als eine protestantische Revolution betrachten?
    "Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Zuschreibung wirklich richtig ist."
    Sagt jedenfalls Stephan Bickhardt. Er bezweifelt, dass die Wende eine evangelische Angelegenheit war. Für wichtiger und letztlich entscheidend hält er die politischen und moralischen Grundüberzeugungen der DDR-Bürger.

    "Nehmen Sie etwa die Leipziger Montagsdemonstrationen: Die Kirche hat ein Setting angeboten, eine Friedensandacht, ein Friedensgebet, über viele Jahre gehalten, auch in kleinen Gruppen, Zeugnis gegeben von der Wahrheit, dass die Veränderungen, die man, wo auch immer, anstrebt, gewaltfrei sein sollten. Und dann sind, weniger aufgrund dieses Zeugnisses, sondern aufgrund eigener Bedürfnisse, einem tiefen Gefühl von Ungerechtigkeit, einer Ohnmacht, eines Zorns, die Menschen auf die Straße gegangen."

    Dabei hatten die Kirchen in der DDR tatsächlich eine komplizierte Stellung inne. So offensichtlich im Nachhinein die Gegensätze zwischen christlichen Gruppen und Anhängern des Regimes erscheinen: Der SED-Staat pflegte ein widersprüchliches Verhältnis zum Protestantismus. So veranstaltete etwa Erich Honecker 1983 ein Lutherjahr zum 500. Geburtstag des Reformators und setzte sich selber an die Spitze des staatlichen Lutherkomitees. Plötzlich wurde Religion Staatssache.
    Tatsächlich erwies sich die Figur des Reformators als ideologisch kompatibel. Zumindest in den Augen der Partei. Die nämlich suchte nach historischen Fundamenten für den Arbeiter-und-Bauern-Staat. Und fand sie bei Friedrich II., Thomas Müntzer – und Luther. Während der eine samt Bronzeross in Berlin wieder den Verkehr "Unter den Linden" regeln durfte, wurden die beiden anderen zu Vor-Vordenkern des Sozialismus zurechtgebogen. Erich Honecker war mehr als nur ein Technokrat der Macht, er wollte den DDR-Bürgern das Gefühl von Heimat geben. Dazu brachte er so unterschiedliche Figuren wie den Preußenkönig und die beiden Religions-Rebellen Luther und Müntzer im sozialistischen "Heiligenkalender" unter. Auch aus solchen Legitimationsmythen musste sich die protestantische Kirche befreien. Das tat sie, als sie den organisatorischen und geistigen Rahmen für den Widerstand gegen das Regime stellte. Dabei wurden die Aktivitäten der Bürgerrechtler auch vom Westen her genau beobachtet:

    "Ich habe natürlich mit Bürgerrechtlern, wenn sie nach Westberlin kamen, gesprochen, aber ich habe grundsätzlich nie in Ostberlin oder sonst wo in der DDR das Gespräch mit Bürgerrechtlern gesucht, weil ich den Eindruck hatte, damit schaffe ich Schwierigkeiten."

    Martin Kruse klingt nicht sehr zufrieden, wenn er auf seine Zeit als Bischof zurückblickt. Von 1977 bis 1994 leitete er die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg, bis 1991 nur die westliche. Von 1985 bis 1991 war er Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Martin Kruse war damit der Bischof der Wende. Er weiß, wie kompliziert sich das Leben für die Kirche zu Mauerzeiten gestaltete.
    Aber was heißt schon "die Kirche"? Es gab viele Kirchen. Es gab Protestanten und Katholiken, es gab die offizielle Kirche und die Basis, es gab die protestantische Staatsnähe und den evangelischen Individualismus. Und: Es gab Ost und West. Beide Seiten arbeiteten zusammen, über die Mauer hinweg: So hätte es ohne finanzielle Hilfe aus dem Westen viele Kindergärten, Altenheime und Kirchenbauten in der DDR nicht gegeben. Die Diakonie bestritt einen großen Teil des DDR-Sozialwesens, ihre Kliniken waren mit westlichem Gerät ausgestattet.
    Auch das hatte zwei Seiten, denn gerade die Nomenklatur ließ ihre kranken Glieder gerne in der Diakonie-Medizin heilen. Erich Honecker hatte keine Berührungsprobleme mit den Kirchen – er persönlich sorgte dafür, dass seine erste Ehefrau in einem katholischen Krankenhaus gepflegt wurde. Beim Kontakt zwischen der protestantischen Kirche im Osten und ihrer westlichen Schwester ging es nicht bloß um Geld und Unterstützung für die marode Infrastruktur des DDR-Sozialwesens, sagt Kirchenhistoriker Peter Maser:

    "Es war eben nicht nur: Da kamen die Reichen, die schenken konnten, aus dem Westen und gaben sozusagen den Kaffee ab, und das war's dann eigentlich. Sondern je länger je mehr wurden die Gespräche immer tiefgründiger, immer intensiver, so dass also es wohl nicht nur Höflichkeit war, wenn immer wieder auch die westdeutschen Besucher sagten: Wir kommen zurück auf eine beschenkte Weise, gerade weil wir bei euch ein christliches Leben unter ganz besonderen Bedingungen, Erschwernissen und so weiter und so fort erleben. Aber eben auch erleben können, dass Christenmenschen auch in der DDR durchaus fröhlich sein können."

    Über die Mauer hinweg suchten und hielten Kirchenmitglieder aus West und Ost den Kontakt. Nicht immer war man einer Meinung. Die Deutschlandpolitik blieb in den Gesprächen tabu, weil die Ost-Protestanten Angst hatten, das System von der anderen Seite in Frage stellen zu lassen. Katholiken beteten für "Eintracht und Einheit, Freiheit und Frieden mit allen Völkern Europas und der Erde", Protestanten setzten auf Wandel durch Annäherung. Der 9. November 1989 überraschte alle – auch wenn die Mauer ohne die evangelische Kirche Ost kaum gefallen wäre. Doch auch der Westen half – ganz konkret, wie sich Stephan Bickhardt erinnert.

    "Wir waren doch froh, wenn der Herr Schmude bei Rainer Eppelmann plötzlich auftauchte und ich eine Nachricht kriegte, komm doch da mal hin. Wir waren doch froh, wenn Roland Jahn mit Geld von Wolf Biermann und Jürgen Fuchs drei Druckmaschinen organisierte, sie rüberbrachte, eine kriegte mein Untergrundverlag, eine kriegte Rainer Eppelmann und eine andere der 'Grenzfall'. Wir waren doch froh über Besuche auf Kirchentagen, zum Beispiel in Leipzig beim Kirchentag von unten hat sich Herr Eppler einer wichtigen Diskussion gestellt."

    Der Blick auf die Ereignisse verschiebt sich mit den Jahren: Vielen in Ost und West galten die Ausreisewilligen früher als Egoisten und Verräter. Dabei stellten auch sie das DDR-System in Frage, als sie darauf beharrten, ihr Menschenrecht auf Freizügigkeit in Anspruch zu nehmen. Und wer weiß schon, dass die Leipziger Friedensgebete 1988 unter Ausreisewilligen begannen?
    Bürgerrechtsbewegung und Ausreisebewegung gehören zusammen. Wie stand die Kirche dazu?

    "Wenn es heißt, die Kirchen haben die Ausreisewilligen im Regen stehen lassen: Was die grundsätzlichen Erklärungen betrifft, würde ich sagen: Jawohl."

    Sagt Christoph Demke, damals Bischof der Kirchenprovinz Sachsen.
    "Es gibt keine Erklärung, die sagt, Ihr tut gut daran, reist nur alle aus, dann bricht die DDR zusammen. Aber was die Einzelfälle betrifft, bestreite ich das entschieden. Denn ein großer Teil meiner Tätigkeit als Bischof bestand darin, Ausreiseleuten, die Anträge jahrelang gestellt hatten, zu helfen, dass sie nur endlich rauskommen."

    So lag das protestantische an der sanften "Revolution" vom 9. November 1989 in der konkreten Arbeit der Gemeinden am Ort. Hinter den Mauern der Kirche formierte sich das besondere Milieu aus religiös Motivierten, politisch Engagierten und intellektuellen Aktivisten. Hier war Platz für einen von den Staatsorganen nur schwer zu kontrollierenden Austausch, auch zwischen den unterschiedlichen Gruppen – etwa zwischen Ausreisewilligen und Bürgerrechtsaktivisten. Stephan Bickhardt:
    "Das christliche Zeugnis, die sonntäglichen Gottesdienste, die Organisation der Gemeinden, auch dass die Gemeinden vergleichsweise offene Körperschaften ja bis heute sind, wo man einfach hinzukommen kann. All das hat einen Diskussionsraum ermöglicht, der eben dann auch eine Streitkultur bereitgehalten hat, zwischen denen, die politisch mehr wollten, und denen, die politisch vorsichtiger gewesen sind."

    Die evangelische Streitkultur. Auch mit ihrer Hilfe blieb die Wende friedlich. Der sanfte Umsturz war ein zivilisatorisches Wunder, die unblutige Revolution wäre undenkbar gewesen ohne Mut, ohne Disziplin, ohne Vernunft und Bürgersinn. Stephan Bickhardt betont, wie eng sich die protestantische Kirche im Osten Deutschlands auf den Staat bezog und noch bezieht:
    "Insofern drückt sich dort ein Ideal des politischen Protestantismus aus, als dass deutlich wird, dass für jede Kirchengemeinde das kommunale Gegenüber – Christengemeinde und Bürgergemeinde spricht man das manchmal aus – nicht nur ein Gegenüber ist, sondern ein Raum der Mitgestaltung, ein Raum der Diskussion, und im Falle von Konflikten die Kirche auch gerufen ist, wie seinerzeit am runden Tisch, eine moderierende Rolle zu übernehmen."

    Diesem spannungsreichen Gegenüber von Staat und Kirche hat sich der ostdeutsche Katholizismus konsequent verweigert. Katholiken stellten nur drei Prozent der Bevölkerung, sie waren eine klassische Minderheit. Dennoch nahmen sie, zumindest hinter den Kulissen, Einfluss auf die Politik.

    "Auf der anderen Seite war natürlich bekannt in der DDR, dass mit Katholiken nicht gut Kirschen essen ist."

    Glaubt Peter Maser. Der ostdeutsche Katholizismus hatte politisches Gewicht, weil die DDR alles daran setzte, international anerkannt zu werden.

    "Und die katholischen Bischöfe in der DDR haben die Karte immer sehr, sehr gekonnt ausgespielt, wenn es irgendwie brenzlig wurde, zu sagen: Ja also, wir hören das, wir nehmen die Warnungen, die Ermahnungen und was weiß ich zur Kenntnis, aber wir müssen das alles erst mal in Rom besprechen, bevor wir hier irgendwie etwas Verbindliches sagen oder erklären können."

    So wurden katholische Kinder in der Regel leichter zu Oberschule und Abitur zugelassen als Kinder aus evangelischen Pfarrhäusern. Partei und Staat hatten kein Interesse an einem Konflikt: Der Ruf des Regimes sollte gewahrt werden. Die friedliche Wende fand so als nicht-katholisches Ereignis statt. Auch wenn sie vielleicht nicht in allem und durch und durch evangelisch war – ihre konfessionelle Grundierung ist am Ende kaum zu übersehen.