Dienstag, 23. April 2024

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Proteste gegen Corona-Politik
"Verwahrlosung der Demokratie"

Die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen wertet der Politikwissenschaftler Rainer Forst als Krise in der Demokratie. Die Frage der Gerechtigkeit gerate aus dem Blick, Verschwörungstheorien hätten immer mehr Zulauf, sagte er im Dlf. Die Politik müsse ihr Vorgehen nun nachvollziehbar rechtfertigen.

Rainer Forst im Gespräch mit Anja Reinhardt | 13.09.2020
Der Philosoph und Politikwissenschaftler Rainer Forst, fotografiert in seinem Büro in der Goethe-Universität in Frankfurt am Main
Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt (dpa / Frank Rumpenhorst)
Spätestens mit dem Einzug der AfD in den Bundestag lässt sich eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik feststellen. Diese Zäsur besteht vor allem darin, dass rechtsnationales Denken politischen Einfluss nicht nur auf Landes- sondern auch auf Bundesebene hat. Ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse, zu denen Pegida-Kundgebungen gehören und, wie erst vor zwei Wochen gesehen, Reichsfahnen geschwungen werden und zu verfassungsgebenden Versammlungen aufgerufen wird. Antisemitische Verschwörungstheorien werden öffentlich in den Raum gestellt und auch der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübke letztes Jahr durch einen Rechtsextremisten untermauert diese Zäsur.
"Miteinander das kollektive Leben organisieren"
Sind die Demonstrationen gegen die Corona-Politik, sind die Krawalle in Stuttgart, Frankfurt oder Leipzig eine Steigerung dieser Dynamik oder zeigt sich hier noch mal eine andere zerstörerische Kraft, hervorgerufen durch die Maßnahmen gegen die Pandemie? Rainer Forst, Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt, spricht sogar von einer "Verwahrlosung" der Demokratie. "Sie ist nämlich nicht ein Instrument dafür, dass Mehrheiten Minderheiten drangsalieren können, in ihren Grundrechten infrage stellen, auch nicht dann, wenn sie meinen, irgendeine Leitkultur sei zu verteidigen." Demokratie heiße vielmehr, "miteinander das kollektive Leben so zu organisieren, dass wir einander als Gleiche respektieren und bestimmte Ungleichheiten sowohl der Behandlung wie auch der Privilegierung bestimmter Gruppen nicht zulassen dürfen."
Demokratie muss Kritik aushalten - aber keinen Unsinn
Nicht jeder Demonstrant bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen sei ein Demokratie-Gegner, meint Forst, eine Demokratie müsse auch Kritik und Protest aushalten. "Aber es ist schon wieder eine Verwahrlosung der Demokratie, wenn Leute bei den politischen Statements, die sie auf solchen Demonstrationen kundgeben, überhaupt nicht mehr in der Lage sind zu reflektieren, wo die Schwelle zwischen dem öffentlich Vertretbaren und dem reinen Unsinn eigentlich liegt." Die "Schlüsselfrage der Gerechtigkeit" für alle, nach Arbeit und Bildung gerate immer mehr aus dem Blickfeld, sagt der Politikwissenschaftler. "Wenn Gesellschaften egal wird, was mit manchen Teilen der Bevölkerung geschieht, wenn sie sich einrichten in Lebensverhältnissen, mit denen sie ganz gut zurechtkommen, aber eben andere nicht, dann tritt so eine Verwahrlosung ein."
Wirklichkeitsgehalt der politischen Vorstellungen wird nicht mehr geprüft
Auch eine immer größere Anfälligkeit für Verschwörungstheorien und nicht belegbare Unterstellungen Politikern gegenüber belege die Krise. "Es ist auch eine Verwahrlosung der Demokratie, wenn Menschen den Wahrheitsgehalt und den Wirklichkeitsgehalt ihrer politischen Vorstellungen nicht mehr prüfen, vielleicht nicht mehr prüfen wollen." In dieser Krise sei es wichtig, dass die aktuelle Politik vernünftig und nachvollziehbar gerechtfertigt werde. "Denn diese Maßnahmen und all die Folgekosten, die uns noch jahrelang beschäftigen werden, werden nur politisch zu verantworten seien, wenn die Mehrzahl der Menschen die Gründe akzeptiert, aus denen heraus dies geschah."