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Proteste in Chile
Jetzt antwortet die Streetart

Die Forderungen der Protestbewegung in Chile schlagen sich vor allem auf der Straße nieder: in Form von Konzerten, Performances und Wandbildern, die man in Santiago de Chile und Valparaíso allerorten findet. Die Straße ist ein Ort der rebellischen Kunst des Wandels - mit globaler Strahlkraft.

Von Sophia Boddenberg | 18.12.2019
Eine mit Sprüchen und Zeichnungen versehene Wand am Kulturzentrum Gabriela Mistral im Zentrum Santiagos
Eine Wand am Kulturzentrum Gabriela Mistral im Zentrum Santiagos (Deutschlandradio/Sophia Boddenberg)
Auf dem Plaza Yungay im Zentrum von Chiles Hauptstadt Santiago spielt an einem Nachmittag im Dezember ein Orchester das Stück "La Partida" von Victor Jara. Anfang der 70er-Jahre wurde Jara durch seine Musik bekannt, die sich um soziale Ungerechtigkeit und Revolution dreht. Kurz nach dem Militärputsch 1973 wurde er von einem Soldaten ermordet. Die Sängerin Carmen Prieto begleitet das Orchester "Victor Jara Sinfónico":
"Dieses Orchester wurde speziell gegründet, um Musik an öffentliche Orte zu bringen, die mit dem sozialen Protest in Verbindung stehen. Die Musik ist die Seele und die Stimme des Volkes. Deshalb ist das Werk von Victor Jara zum Symbol dieses sozialen Umbruchs geworden. Es haben sich so viel Machtmissbrauch und soziale Ungerechtigkeit angestaut, dass die Situation explodiert ist. Und die erste Assoziation, die wir dabei hatten, war Victor Jara."
Kunst für alle
Eine Straßenecke entfernt vom Plaza Yungay kleben zwei Straßenkünstler ein Plakat an eine Wand. Es ist das etwa zwei Meter große Gesicht von Joane Florvil in Schwarz-Weiß. Das Kinn leicht nach oben gehoben, blickt sie mit ihren großen, dunklen Augen in die Ferne. Sie war eine Migrantin aus Haiti, die 2017 unter tragischen Umständen ums Leben kam. Aufgrund von sprachlichen Missverständnissen musste sie ihr Kind an das Jugendamt abgeben, Florvil wurde festgenommen. Sie starb, nachdem sie sich aus Verzweiflung in der Gefängniszelle den Kopf aufgeschlagen hatte.
Die beiden Künstler Ez und Enro benutzen Pseudonyme, um ihre Identität zu verbergen. Papelyyo Colectivo heißt ihre Street-Art-Gruppe. Seit die Proteste im Oktober hochkochten, ziehen sie mindestens einmal in der Woche los, um die Stadt mit ihren Postern zu bekleben, die Geschichten erzählen.
Ez: "Wir haben von Anfang an gesagt, wenn wir Kunst machen wollen, etwas zeigen, sagen oder anklagen wollen, auch Unbequemes, dann wird es nicht in Museen oder Galerien sein. Dieses Kunstverständnis gefällt uns nicht. Wir wollen, dass Kunst für alle ist. Kunst auf der Straße ist illegal, dem Gesetz zufolge ist es Vandalismus. Früher mussten wir häufig weglaufen und nachts auf die Straße gehen. Jetzt können wir auch tagsüber losziehen, weil im Moment alle etwas sagen wollen. Darüber erzählen die Wände. Diese historische Situation hat dazu geführt, dass die Leute sich ausdrücken wollen, es hat fast etwas Therapeutisches."
Valparaíso - jetzt noch bunter
Etwa 100 Kilometer westlich von Santiago liegt die Hafenstadt Valparaíso – sie war auch schon vor den Protesten bekannt für ihre Streetart-Kultur – aber auch hier sind die Wände noch bunter und politischer geworden. Im Stadtviertel Cerro Barón hat der Straßenkünstler Giova zwei große Wandbilder gemalt: Ein Schüler und eine Schülerin springen über ein Drehkreuz, im Hintergrund die Nationalflagge Chiles.
Es waren die Schüler, die die Rebellion am 18. Oktober auslösten, in dem sie durch Aktionen des kollektiven Schwarzfahrens gegen eine Erhöhung der U-Bahn-Preise protestierten. Anschließend breitete sich der Protest im ganzen Land aus. Mittlerweile geht es schon lange nicht mehr um die Fahrpreise, sondern um ein Ende des neoliberalen Systems.
Giova: "Ich glaube, dass es wichtig ist, dass die Künstler die Identität der Bewegung stärken. Ich habe die Schüler, die über die Drehkreuze springen, gemalt, weil das für mich eine symbolische Aktion ist für die Bewegung generell und das Erwachen Chiles. Die einfache Aktion, über ein Drehkreuz zu springen, verwandelt sich in ein Symbol für einen Sprung aus dem System."
Die Gewalt ist global
"Es war nicht meine Schuld, egal wo ich war, egal wie ich angezogen war: Der Vergewaltiger bist du! Die Bullen! Die Richter! Der Staat! Der Präsident!", heißt es in der Performance "Un Violador en tu Camino" – "Ein Vergewaltiger auf deinem Weg", die auf der ganzen Welt viral gegangen ist. Die Initiatorinnen gehören zum Kollektiv LAS TESIS und kommen ebenfalls aus der Hafenstadt Valparaíso. Dass sie auf der ganzen Welt bekannt werden würden, hätten die vier Frauen nicht gedacht. Paula Cometa spricht stellvertretend für das Kollektiv:
"Wir glauben, dass die Performance viral gegangen ist, weil die Gewalt global ist. Wir haben ursprünglich nur eine Performance gestaltet, kein Protestlied. Die Frauen haben es dazu gemacht. Was passiert ist, geht weit über unser Kollektiv hinaus. Es ist ein globales Kollektiv entstanden, das für die Veränderungen kämpft, die wir verdienen."