Montag, 13. Mai 2024

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Protestforscher Kraushaar
"Einfach eine völlig unkontrollierbare Konstellation"

Auch wenn er nach Ende des G20-Gipfels mit Rücktrittsforderungen rechne, die eigentliche Verantwortung für die Krawalle liege bei Bundeskanzlerin Angela Merkel und Hamburgs Erstem Bürgermeister Olaf Scholz, sagte Protestforscher Wolfgang Kraushaar im Dlf. G20 in einer solchen Hochburg der Autonomen abzuhalten, sei eine "sehr zweifelhafte politische Entscheidung".

Wolfgang Kraushaar im Gespräch mit Jasper Barenberg | 08.07.2017
    Randalierer stehen im Schanzenviertel in Hamburg vor einer brennenden Barrikade. file_source: Markus Scholz/dpa
    Die Autonomen mussten sich profilieren, sagte Kraushaar. (Markus Scholz/dpa)
    Jasper Barenberg: Zurück zu der Eskalation gestern Abend in Hamburg. Immer wieder brannten Barrikaden in den Straßen, haben Vermummte Fensterscheiben zerschlagen mit Pflastersteinen, sind in Geschäfte eingebrochen, haben geplündert und das Mobiliar dann später auf die Straße ins Feuer geworfen, es brannte lichterloh. Von einer neuen Dimension der Gewalt spricht heute Vormittag die Polizei in Hamburg. Sie hat gestern Abend Hundertschaften und auch Spezialkräfte eingesetzt, um die Situation überhaupt unter Kontrolle bringen zu können.
    Am Telefon ist der Politikwissenschaftler und Protestforscher Wolfgang Kraushaar. Schönen guten Tag nach Hamburg!
    Wolfgang Kraushaar: Ja, schönen guten Tag!
    Barenberg: Herr Kraushaar, wir haben alle vermutlich Bilder gesehen, Videos möglicherweise, die im Netz kursieren mit schwarzvermummten Gestalten in Handschuhen, den Pflasterstein in der Hand. Wir haben die Plünderungen gesehen und die brennenden Barrikaden. Geht es denen, die da Autos angezündet haben und Geschäfte geplündert haben, um irgendetwas anderes als um nackte Gewalt?
    Steine liegen am 08.07.2017 nach schweren Auschreitungen in Hamburg auf der Straße. Randalierer haben im Schanzenviertel eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Zerstörte Fahrräder und Mülltonnen lagen auf der Straße. Fensterscheiben waren eingeschlagen oder beschädigt. Die Polizei hatte die Straße zuvor abgeriegelt und war massiv gegen die Randalierer vorgegangen. 
    Proteste und schwere Ausschreitungen bestimmen den G20-Gipfel (dpa / picture alliance / Marcus Brandt)
    Kraushaar: Na ja, die wollen ein Zeichen setzen, ein Zeichen setzen für eine Art von Großaktion gegen den globalisierten Kapitalismus, und das ist ihnen ja in gewisser Weise auch gelungen, und das hat eine Art von Implikation, die natürlich unabsehbar von Anfang an gewesen ist. Mich erinnern die Bilder übrigens an das, was man Mitte der 60er-Jahre in den Vereinigten Staaten als Rassenunruhen bezeichnet hat.
    Da gab es auch das Phänomen mit den Rauchsäulen über den Städten – Chicago, Los Angeles und so weiter –, und gleichzeitig sind dort wirklich marodierende Gruppen durch die Straßen gezogen, haben Geschäfte geplündert, haben Autos angezündet, dort wurde die Nationalgarde eingesetzt, und wir haben auf einmal, zum allerersten Mal solche Szenen, solche Szenerien hier in einer Millionenstadt wie Hamburg erlebt, und es ist leider Gottes alles absehbar gewesen. Es ist genau so eingetreten, wie man es hätte befürchten müssen.
    Barenberg: Gibt es keine Möglichkeit für die Organisatoren solcher Proteste in irgendeiner Weise dafür zu sorgen, dass eben diese militanten Teilnehmer nicht dabei sein werden?
    Kraushaar: Na, da ist ja die Frage, um welche Organisatoren es sich handelt. Es gibt ja insgesamt in diesen Tagen etwa zwei Dutzend an Demonstrationen, und wenn Sie eine Demonstration oder den Titel "Welcome to Hell" anmelden, dann ist ja die Eskalation bereits in der Ankündigung enthalten. Also was wollen Sie von solchen Organisatoren eigentlich erwarten? Da gibt es keine Möglichkeit, das anschließend noch mal zu domestizieren, wenn es einmal losgelassen ist, und wenn Sie eine Demonstration wie bei "Welcome to Hell" mit 12.000 Personen haben, von denen mindestens ein Drittel absolut militant ist und nur die Gelegenheit suchen zu einer solchen Konfrontation, dann stehen Sie auf einem verlorenen Posten.
    Barenberg: Und das heißt auch, Wolfgang Kraushaar, wenn ein Politiker von der Linkspartei, wie Jan van Aken, diese Demonstration mitorganisiert und dann sagt, na, das muss immer Abwägungsfrage sein, wann man da von Gewalt sprechen kann und am Ende dann sagt, so haben wir das natürlich nicht (*) gewollt, trägt auch er dann einen Teil der Verantwortung für dieses Ausmaß an Gewalt und Zerstörung?
    Den Autonomen die Machtpolitiker "vor die Haustür gelegt"
    Kraushaar: Ich würde es einerseits nicht zu eng sehen wollen, ihn in jeder Hinsicht sozusagen in Rechenschaft ziehen zu können, das glaube ich nicht, aber Herr van Aken ist alles andere als naiv, und er wird einfach gewusst haben, oder er hätte wissen müssen, was dort sich vorbereitet hatte.
    Ich will nur einen Vergleich wagen: Vor zwei Jahren wurde zum Beispiel das neue Gebäude der Europäischen Zentralbank in Frankfurt eingeweiht, da sind tausend aus Italien an Autonomen angereist, und dort hat man schon solche Szenen eigentlich erlebt. Man weiß genau, was sich dann abspielt, und solche Hochburgen der Autonomen, wie in Hamburg oder Berlin oder auch in einigen anderen Städten, die haben ja über Jahre, Jahrzehnte hinweg gezeigt, was dann möglich ist, und das ist natürlich sozusagen der Dollpunkt gewesen, dass man wirklich durch eine politische Entscheidung, die sehr zweifelhaft war, der autonomen Hochburg der Roten Flora und dem Schanzenviertel sozusagen eine Art von Konstellation an Machtpolitikern vor die Haustür gelegt hat, dass die ja gar nicht mehr anders konnten. Die hätten sich ja gar nicht mehr blicken lassen können, wenn sie da nichts unternommen hätten.
    Das heißt, es gab auch für die sozusagen einen Druck, sich profilieren zu müssen, die Gelegenheit wahrnehmen zu müssen, und das ist jetzt gemacht worden. Man kann natürlich im Nachhinein nur schwer unterscheiden, was sind Einheimische, was sind Zugereiste und so weiter, das ist natürlich eine große Melange, aber das ist einfach eine völlig unkontrollierbare Konstellation gewesen, und das wusste man vorher.
    "Es wird Rücktrittsforderungen geben"
    Barenberg: Und wenn Sie das so deutlich sagen, eine unkontrollierbare, absehbare Situation, was bedeutet das dann für die Politiker, für die Gerichte, für die Polizei, wenn es eben um solche Großveranstaltungen geht?
    Kraushaar: Also ich glaube, dass die Politik wirklich in sich gehen muss. Ich denke auch, wenn diese Tage vorüber sind, dann wird es Rücktrittsforderungen geben gegenüber dem Hamburger Innensenator Grote, gegenüber dem Polizeichef Meyer, aber das sind natürlich gar nicht die entscheidenden Personen. Die haben ja versucht, etwas umzusetzen, was ihnen vorgelegt worden war, und ich glaube, die Verantwortung dafür liegt bei Bundeskanzlerin Angela Merkel, beim Ersten Bürgermeister Olaf Scholz, und diese Entscheidung ist von Anfang an mit so großen Risiken behaftet gewesen, dass man diese nicht in dieser Form hätte fällen sollen.
    Nachher saßen sozusagen die Polizisten, die Sicherheit garantieren wollten, in der Falle, ebenso wie die Bewohner dieser Stadtteile, und dann hat sich sozusagen ein Muster abgespielt, nur sehr viel potenzierter als man das bereits in der Vergangenheit gekannt hat, und insofern wird es im Anschluss daran eines erheblichen Nachdenkens darüber bedürfen, ob man so etwas noch veranstalten kann. Ich will in diesem Zusammenhang auch den ehemaligen britischen Premierminister Tony Blair erwähnen, der gesagt hat, grundsätzlich dürfe man G-Treffen, also Gipfeltreffen, ob sieben oder acht oder 20, nicht in Großstädten veranstalten, weil nämlich anschließend durch die Proteste und durch die Militanz bei den Protesten das Gesamtbild ruiniert werden würde, und ich befürchte, dass das auch diesmal der Fall ist.
    Barenberg: Die Einschätzungen des Politikwissenschaftlers und Protestforschers Wolfgang Kraushaar. Vielen Dank für Ihre Zeit heute Mittag!
    Kraushaar: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    (*) Anmerkung der Redaktion: In einer ursprünglichen Form des Transkripts fehlte an dieser Stelle das Wort "nicht".