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"Proto" von Holly Herndon
Musik mit künstlicher Intelligenz

Auf ihrem neuen Album "Proto" macht Komponistin Holly Herndon Musik mit einer künstlichen Intelligenz, die sie mit Medienkünstler Matthew Dryhurst entwickelt hat. Das musikalische Ergebnis überzeugt und lässt über das ambivalente Verhältnis von Mensch und Maschine nachdenken.

Von Raphael Smarzoch | 04.05.2019
Auf dem Bild ist die Komponistin Holly Herndon mit ihrem Proto-Chor zu sehen.
Die Komponistin Holly Herndon mit ihrem Proto-Chor (Boris Camaca)
Eine künstliche Intelligenz lernt Sprechen. Ihr Name: Spawn. Langsam kämpft sich Spawn durch Vokale, Konsonanten und Silben, durchdringt Wörter und formuliert schließlich ganze Sätze.
"Spawn wurde mit meiner Stimme trainiert."
Holly Herndon hat Spawn mehr als sechs Monate lang mit ihrer Stimme gefüttert. Zunächst passierte nicht viel. Die künstliche Intelligenz hörte bloß zu. Doch dann begann Spawn zu antworten und stellte aus den gespeicherten Informationen eigene Sinnzusammenhänge her.
"Man könnte es mit einem Marmorsteinbruch vergleichen. Man nimmt ein rohes Stück Marmor und beginnt, es in eine Skulptur zu verwandeln. In diesem Fall ist der Marmorstein aber ein weites Soundspektrum. Aus diesem kann Spawn dann Klänge formen."
Unheimlich nah am Original
Im Track "Godmother" versucht Spawn, aus Holly Herndons Stimme Musik im Stil der Footwork-Produzentin Jlin zu komponieren. Diese wurde ihr zuvor vorgespielt. Das Resultat dieses Experiments klingt dem Original unheimlich ähnlich.
Unheimlich sind aber auch die ethischen Fragestellungen, die das mit sich bringt: Schon bald könnte es möglich sein, mit Hilfe künstlicher Intelligenzen, die Stimmen anderer Menschen täuschend echt zu simulieren.
"Was bedeutet es, die Stimme eines Menschen nachzubilden? Was ist, wenn diese Person nicht mehr am Leben ist? Was wäre, wenn wir Aretha Franklins Stimme nachbilden und mit ihr ein völlig neues Repertoire aus Liedern herstellen würden, die sie singt und mit deren Texten sie womöglich niemals einverstanden wäre?"
Holly Herndon ist auf der Suche nach einer musikalischen Ästhetik der Gegenwart, mit der sie das menschliche Wesen in Zeiten der omnipräsenten Digitalisierung dokumentieren kann. Technologie ist für sie nichts Fremdes, sondern ein Werkzeug, das vernetzt und völlig neuartige soziale Verbindungen erschafft, auch zwischen Mensch und Maschine. Im Gespräch bezeichnet sie Spawn als ihr Baby und sich als seine Mutter. Damit vermenschlicht Herndon ein im Computer entstandenes Wesen. Dass dies durchaus problematisch ist, ist ihr bewusst.
"So etwas kann unsere Vorstellungskraft einschränken. Es liegt in unserer menschlichen Natur, narzisstisch zu sein und zu versuchen, Dinge nach unserem Ebenbild zu gestalten. Und eine der interessantesten Eigenschaften von Spawn ist, dass es eine völlig andere Art von Intelligenz darstellt."
Dem Menschen ebenbürtig
Was tönt da aber aus den Lautsprechern? Ist Spawn nur ein Algorithmus oder doch ein digitales Ding mit Bewusstsein, das mit Respekt und Sorgfalt behandelt werden muss?
Es ist davon auszugehen, dass künstliche Intelligenzen in Zukunft womöglich den Menschen ebenbürtig sein werden. Gleichwertige Partner, mit denen alle Facetten des Lebens gemeinsam gestaltet werden. Dieser Gedanke wird auch in Holly Herndons Musik deutlich. Spawn singt nicht alleine, sondern zusammen mit einem Chor.
"Ich versuche herauszufinden, wie ich diese aufkommende Technologie so nutzen kann, dass wir gemeinsam mit ihr mehr Menschlichkeit erlangen. Es geht mit nicht darum sie zu verwenden, um Menschen von der Bühne wegzuratrionalisieren."
Auf "Proto" vermischt Holly Herndon wie auf den Vorgängeralben hochaufgelöste Computerklänge mit ihrer eigenen Stimme, die sie digital bearbeitet. Auch wenn sie betont, eine Musik produzieren zu wollen, die in die Zukunft weist, integriert sie in ihre Science-Fiction-Kompositionen auch traditionelle Sounds. Man hört immer wieder Anklänge an die Tradition der Folk- und Gospel-Musik der USA. Eine wichtige Inspiration für die Chor-Arrangements waren aber auch Frauenchöre aus Bulgarien.
"Ich habe mich mit wirklich alten Gesangstraditionen beschäftigt. Wir wollten unsere eigene Folk-Musik entwickeln, die im Hier und Jetzt verankert ist und mit unserer Technologie sinnvoll harmoniert."
Das macht das Album "Proto" tatsächlich zu einem gelungenen Prototypen. Holly Herndons liefert eine überzeugende Untersuchung einer bislang noch wenig bekannten Koexistenz zwischen Menschen und nicht-menschlichen, digitalen Wesen. Denn "Proto" ist mehr als eine weitere Neuveröffentlichung: Es ist ein soziales Experiment, das eine Form von Gemeinschaft ausprobiert, die schon bald allgegenwärtig sein könnte.