Eines steht bei allem Treffenden und Schlagenden an Bohrers Tiraden ebenfalls fest: Er ist ein großer Übertreibungskünstler und ein Nostalgiker außerdem. Einmal zitiert er seitenlang, ein Couplet der jungen Evelyn Künneke, um zu demonstrieren, daß sie über jene urban-witzige und irgendwie Westbindung verratende Frechheit verfügte, die er ansonsten hierzulande so schmerzlich vermißt. Außer bei Künneke entdeckt sie Bohrer allenfalls noch bei - man darf staunen - Konrad Adenauer. Das volle Elend des Provinzialismus ist ihm zufolge nicht mit Adenauers rheinischer Restauration über unser Land gekommen, sondern eine Gneration später, mit den verbeamteten Erben des Jahres 1968. Erst sie hätten endgültig die Herrschaft des Mittelmaßes und der Provinz in Deutschland errichtet. Nur eine Handvoll unbestechlicher Intellektueller halte dagegen, Habermas etwa, Enzensberger und eben Bohrer.
Viel hält sich Bohrer auf seine jederzeit bewiesene politische "Unkorrektheit" zugute. Das "juste milieu", das Kartell der Mittelmäßigen, habe auf ihn eingedroschen, als er gegen den deutschen Pazifismus der frühen Achtzigerjahre polemisierte. Bohrers Mutprobe fand freilich in der F.A.Z. statt, unweit von Autoren wie Johannes Gross oder Wolf Jobst Siedler. Es steckt etwas Großbürgerlich-Elitäres, rundum sich überlegen wähnendes in Bohrers Attacken. In Deutschland, so scheint es, findet außer ein paar Freiherren und Anarchisten nichts und niemand vor ihm Gnade. Kann es aber wirklich sein, daß ganz Deutschland außer Karl Heinz Bohrer der Tyrannei der Intimität, dem satten, dummen, föderal-friedliebenden Wohlleben verfallen ist und wir das womöglich nicht einmal merkten, wenn er nicht dauernd seine alarmierenden Depeschen in die westlichen Metropolen schicken würde?
Eines wird in diesem Buch sehr deutlich: Karl Heinz Bohrer hat ein kleines Autoritätsproblem sowohl mit London als auch mit Paris. Sowohl hier wie dort, meint er, nimmt man uns nicht ernst, registriert halb amüsiert, halb besorgt, die deutsche Unfähigkeit, politische Interessen als das zu begreifen, was sie sind. Es kann ja gut sein, daß man uns in Paris und London nicht ernst nimmt, es kann auch sein, daß sich Pariser Eliteabsolventen und Londoner Lords von einem normalen MdB sehr vorteilhaft abheben. Wie konnte es dann aber geschehen, daß gerade hier, in London und Paris, Helmut Kohl zum angesehensten deutschen Staatsmann aller Zeiten avancierte? Und wie hätten die zivilisatorischen Höchstinstanzen in London und Paris auf ein Deutschland reagiert, daß im Bohrerschen Sinn tragisch, selbstbewußt und bellizistisch das erstbeste Angebot zum Kriege nach dem Kriege ergriffen hätte? Aber so zu fragen, ist nicht Karl Heinz Bohrers Sache, und deshalb wird seine ästhetische Kritik der deutschen Politik eben dieser deutschen Politik nur sehr bedingt gerecht.