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Provinzialismus. Ein physiognomischeis Panorama

Seit langem pflegt Karl Heinz Bohrer die Deutschen für eine Unart zu geißeln, die er "Provinzialismus" nennt. Alle Jahre wieder erscheint im "Merkur" eine Kolumne, in welcher der Herausgeber die, wie er es nennt, "shortcomings" der deutschen politischen Klasse und zumal ihres langjährigen Häuptlings Helmut Kohl aufs Korn nimmt. Nun gibt es zwölf dieser Beiträge aus sechzehn Jahren als Buch, und nicht von ungefähr umfaßt der Zeitraum ihrer Erstveröffentlichung exakt die Jahre der Kanzlerschaft Kohls. Mit Kohl, so urteilt Bohrer mit dem geschulten Blick des Physiognomikers, hat die Herrschaft der "mittleren Mittelklasse" und mit ihr eine furchtbare, formlose Gemütlichkeit in diesem Land einen bleibenden Gesichtsausdruck bekommen. Das Grinsen des Altkanzlers selbst und gerade in dem Moment, als er dem Freundeswort den Vorzug vor der Treue zur Verfassung gab, hat Bohrer in diesem Buch nicht mehr kommentiert, doch es wäre wohl für ihn das Symbol für alles, was ihm an Deutschland schauerlich dünkt. Und für alles, wofür man uns in den Metropolen des Westens, in London und Paris zumal belächelt.

Christoph Bartmann |
    Tatsächlich kann man Bohrers mit bewegtem Sarkasmus vorgetragenen Befunden oft zustimmen. "Die westdeutsche Händlergesinnung", heißt es an einer sehr typischen Stelle, "enthält (...) kein Staatsbewußtsein mehr, keine Staatssymbolik, sondern bloß das harmlose Bild föderativer, fettprangender Provinzen zwischen Karneval und Weinernten. Mit Metzgereien ausstaffiert wie mit Boutiquen und so übersättigt, verängstigt, eingekauft ist diese westdeutsche Händlernation, daß sie nur andere für sich kämpfen lassen könnte, oder es bräche eine Massenhysterie aus; die Staatskrise." Den Anlaß für diesen kleinen Wutanfall bot Bohrer das deutsche Unverständnis für Englands Falklandkrieg. Die Anlässe wechseln, Bohrers Wut und Spott bleiben. Mal gelten sie dem Genscherismus, mal der Zögerlichkeit in der Hauptstadtfrage, mal der militärischen Verweigerung im Golfkrieg, dann der deutschen Neigung zum "Euro-Provinzialismus" oder dem Versagen aller Beteiligten bei Reemtsmas Wehrmachtsausstellung. Keinesfalls gilt Bohrers Verachtung allein dem "Kanzler der Einheit" und der Koalition, die ihn stützte, nein, Latontaine oder Schröder sind ihm noch viel mittelmäßigere Gestalten. Die deutsche Politik, mit der präzisen Ausnahme der Herren Weizsäcker und Dohnanyi und mit Einschränkung auch de Maizière (ein Zufall, daß es Aristokraten sind?) ist Bohrer nicht schneidig und nicht zivilisiert genug. Statt "deutsch" benutzt Bohrer interessanterweise immer das aus altlinken Zusammenhängen wohlbekannte Wörtchen "westdeutsch", und zwar unterschiedslos vor und nach der Wende. Die Ostdeutschen kommen bei ihm gar nicht vor. Wahrscheinlich findet Bohrer die ostdeutschen Verhältnisse derart entsetzlich, daß er für sie, anders als für die ebenfalls entsetzlichen "westdeutschen' gar keine Worte aufbringt.

    Eines steht bei allem Treffenden und Schlagenden an Bohrers Tiraden ebenfalls fest: Er ist ein großer Übertreibungskünstler und ein Nostalgiker außerdem. Einmal zitiert er seitenlang, ein Couplet der jungen Evelyn Künneke, um zu demonstrieren, daß sie über jene urban-witzige und irgendwie Westbindung verratende Frechheit verfügte, die er ansonsten hierzulande so schmerzlich vermißt. Außer bei Künneke entdeckt sie Bohrer allenfalls noch bei - man darf staunen - Konrad Adenauer. Das volle Elend des Provinzialismus ist ihm zufolge nicht mit Adenauers rheinischer Restauration über unser Land gekommen, sondern eine Gneration später, mit den verbeamteten Erben des Jahres 1968. Erst sie hätten endgültig die Herrschaft des Mittelmaßes und der Provinz in Deutschland errichtet. Nur eine Handvoll unbestechlicher Intellektueller halte dagegen, Habermas etwa, Enzensberger und eben Bohrer.

    Viel hält sich Bohrer auf seine jederzeit bewiesene politische "Unkorrektheit" zugute. Das "juste milieu", das Kartell der Mittelmäßigen, habe auf ihn eingedroschen, als er gegen den deutschen Pazifismus der frühen Achtzigerjahre polemisierte. Bohrers Mutprobe fand freilich in der F.A.Z. statt, unweit von Autoren wie Johannes Gross oder Wolf Jobst Siedler. Es steckt etwas Großbürgerlich-Elitäres, rundum sich überlegen wähnendes in Bohrers Attacken. In Deutschland, so scheint es, findet außer ein paar Freiherren und Anarchisten nichts und niemand vor ihm Gnade. Kann es aber wirklich sein, daß ganz Deutschland außer Karl Heinz Bohrer der Tyrannei der Intimität, dem satten, dummen, föderal-friedliebenden Wohlleben verfallen ist und wir das womöglich nicht einmal merkten, wenn er nicht dauernd seine alarmierenden Depeschen in die westlichen Metropolen schicken würde?

    Eines wird in diesem Buch sehr deutlich: Karl Heinz Bohrer hat ein kleines Autoritätsproblem sowohl mit London als auch mit Paris. Sowohl hier wie dort, meint er, nimmt man uns nicht ernst, registriert halb amüsiert, halb besorgt, die deutsche Unfähigkeit, politische Interessen als das zu begreifen, was sie sind. Es kann ja gut sein, daß man uns in Paris und London nicht ernst nimmt, es kann auch sein, daß sich Pariser Eliteabsolventen und Londoner Lords von einem normalen MdB sehr vorteilhaft abheben. Wie konnte es dann aber geschehen, daß gerade hier, in London und Paris, Helmut Kohl zum angesehensten deutschen Staatsmann aller Zeiten avancierte? Und wie hätten die zivilisatorischen Höchstinstanzen in London und Paris auf ein Deutschland reagiert, daß im Bohrerschen Sinn tragisch, selbstbewußt und bellizistisch das erstbeste Angebot zum Kriege nach dem Kriege ergriffen hätte? Aber so zu fragen, ist nicht Karl Heinz Bohrers Sache, und deshalb wird seine ästhetische Kritik der deutschen Politik eben dieser deutschen Politik nur sehr bedingt gerecht.