Archiv


Provinziell?

Galakleidung war obligatorisch für die Damen und Herren, die zur Oscar-Party der amerikanischen Literaturszene über den roten Teppich ins New Yorker Marriott Marquis Hotel schritten. 1000 Dollar hatte jeder vor ihnen bezahlt, um im Broadway Ballsaal ein Menü serviert zu bekommen, auf dem neben Morchelsüppchen, Filet Mignon und Champagnersorbet die Verleihung der National Book Awards stand. Geladen war alles, was in der amerikanischen Buchindustrie Rang und Namen hat, von den Chefs diverser Verlagsriesen über Topagenten bis hin zu finanzkräftigen Literaturfreunden, ohne deren Unterstützung in den Vereinigten Staaten keine einzelne öffentliche Bibliothek überleben könnte.

Von Sacha Verna |
    Als Zeremonienmeister fungierte Radiolegende Garrison Keillor, selber Autor von zwölf Büchern. Auch er stilgerecht im Smoking und in weniger stilgerechten roten Socken. Auf die Frage, wie er zu diesen Gastgeberehren gelangt sei, erklärte Keillor pragmatisch, man habe jemanden gesucht, der nicht zu lange spreche. Die Leute hier müssten am nächsten Tag alle wieder zur Arbeit und deshalb um zehn Uhr nach Hause.

    Vorläufig bekundeten jedoch alle Anwesenden noch gespannte Aufmerksamkeit. Denn dass die Juroren der National Book Awards für Überraschungen gut sind, weiß man spätestens seit letztem Jahr, als sie Stephen King eine Medaille für seinen herausragenden Beitrag zur amerikanischen Literatur verliehen. Teile der Fachwelt waren empört über die Ehrung eines Schriftstellers, den viele trotz oder gerade wegen der Millionenauflagen seiner Bücher für einen Trivialautor halten, der es keinesfalls verdient, mit einem der prestigeträchtigsten amerikanischen Literaturpreise ausgezeichnet zu werden.

    Dieses Jahr hatte bereits die Auswahl der Kandidaten für Aufregung gesorgt. Wie bitte, wer bitte? fragten verdiente Literaturkritiker und Verlagsleute, nachdem die Liste der Finalisten in der Belletristik bekannt geworden war: Von Sarah Shun-lien Bynum, Lily Tuck, Kate Walbert, Christine Schutt und Joan Silber hatten nämlich die wenigsten schon einmal etwas gehört, geschweige denn gelesen.

    Zu erfahren war, dass alle fünf Autorinnen in New York City leben und keine von ihrem letzten Buch mehr als dreitausend Exemplare verkauft hat - für amerikanische Verhältnisse geradezu peinlich wenig. Überdies hatte sich die fünfköpfige Jury unter dem Vorsitz von Rick Moody, bekannt geworden durch seinen Bestseller "Eissturm”, dafür entschieden, die neuen Werke von weitaus etablierteren Autoren wie Philip Roth, John Updike und Tom Wolfe schlichtweg zu ignorieren. War die exklusive Unbekanntheit der diesjährigen Belletristik-Finalisten als eine Art Gegenreaktion auf die letztjährige Kür des populären Stephen King gedacht?

    Überrascht hätte, so Edward Wyatt, Literaturkritiker der New York Times, dass die Jury bekannte Namen offenbar absichtlich vermied. Das bedeute jedoch nicht, dass die Finalisten die Nominierung nicht verdienten.

    Der Preis in der Belletristik ging schließlich an die 1938 in Paris geborene Lily Tuck für ihren historischen Roman "The News from Paraguay”, in dem die irische Maîtresse eines Diktators ihr Leben im Paraguay des 19. Jahrhunderts schildert. Lily Tuck bedankte sich etwas atemlos, und dem Jubel des Publikums nach zu schließen, saß in diesem Saal die Mehrheit der 900 Leser, die Lily Tucks Roman schon vor der Nominierung gekauft hatten.
    Den Preis in der Sachbuchkategorie erhielt Kevin Boyle für "Arc of Justice”, ein politisch korrektes Buch über Rassenspannungen im Detroit der 20er Jahre.

    Wie immer nur einer handvoll Experten bekannt waren die Preisträger in den Kategorien Dichtung und Jugendliteratur, Jean Valentine und Pete Hautman. Die Ehrenmedaille nahm, zu Tränen gerührt, die bieder-progressive Kinderbuchautorin Judy Blum entgegen. Und so kam es, dass Garrison Keillor die hart arbeitende amerikanische Verlagswelt tatsächlich um zehn Uhr in die Betten entlassen konnte. Back to business as usual.