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Provokation durch kalkulierte Erotik

Im frühen 20. Jahrhundert war Ida Rubinstein ein Star auf den europäischen Bühnen. Das Publikum begeisterte sie durch ihre Schönheit, die künstlerische Avantgarde lag ihr zu Füßen. Im frühen 21. Jahrhundert ist die Tänzerin, Schauspielerin und Muse selbst weit weniger bekannt als die Künstler, die sie inspirierte und unterstützte.

Von Christina-Maria Purkert |
    Maurice Ravels "Bolero" inspiriert bis heute immer wieder Choreografen. Zu verdanken ist dies einer ungewöhnlichen Frau: Ida Rubinstein, Tänzerin, Schauspielerin, Muse und Mäzenin. Sie gab die Komposition in Auftrag, sie tanzte am 22. November 1928 in der Pariser Oper als erste dazu: eine geheimnisvolle, erotische Frau, die die sie umlagernden Männer außer Kontrolle geraten ließ.
    Da war Ida Rubinstein etwa 40 Jahre alt. Wie so oft bei Frauen, die für ihre Schönheit berühmt wurden, gibt es auch bei ihr abweichende Angaben zum Geburtsjahr. Im ukrainischen Kharkov wurde sie als Lyida Lvona Rubinstein geboren. Ihre Eltern, reiche jüdische Unternehmer, starben früh, und sie wurde von Verwandten in St. Petersburg erzogen. Ida sog das gesellschaftliche und kulturelle Leben der Zarenstadt mit Begeisterung auf. Gegen den Willen der Familie machte sie eine Schauspielausbildung und nahm Ballettunterricht bei Michail Fokin, dem späteren Choreografen der Ballets Russes.
    Eine höhere Tochter auf der Bühne war im noch jungen 20. Jahrhundert ohnehin ein Skandal – doch Ida Rubinstein trieb ihn auf die Spitze: Gezielte Provokation durch kühl kalkulierte erotische Darstellung war ihr Stilmittel. Der Kritiker André Lewinsohn schrieb 1906 nach dem ersten Auftritt:

    "Diese junge Frau mit ihrer aufregenden, geheimnisvollen Schönheit, diese geheimnisvolle Jungfrau, wollüstig und zugleich leidenschaftslos kalt, mit einem eisernen Willen hinter einer zerbrechlichen Erscheinung, besaß eine hochmütige und kühle Intelligenz."

    1908 inszenierte sie Oscar Wildes "Salome" für eine Privatvorstellung in St. Petersburg. Michail Fokin schuf mit ihr dafür den "Tanz der Sieben Schleier". Alle fielen im Verlauf der Darbietung. Der Impressario Serge Diaghilev engagierte sie deshalb als erste Tänzerin ohne klassische Ausbildung für die neu gegründeten Ballets Russes. Mit dem in Russland inzwischen zensierten Schleiertanz begeisterte sie 1909 das Pariser Publikum: als Cleopatra mit zwölf Schleiern an der Seite von Vaclaw Nijinski. Jean Cocteau erinnerte sich an den Auftritt, der ihren internationalen Ruhm begründete:

    "Der zwölfte Schleier gab Madame Rubinstein frei, ... und sie stand, mit leerem Blick, bleichen Wangen und geöffnetem Mund vor dem gefesselten Publikum, durchdringend schön, wie der intensive Duft einer exotischen Essenz."

    Ida Rubinstein verfügte über ein enormes Vermögen und nutzte es für die Kunst und für lange exotische Reisen. 1913 schrieb sie in einem Pariser Magazin:

    "Mein Leben? Es besteht aus zwei verschiedenen Teilen, denen ich mich alternativ widme: die großen Reisen und das Theater; der bewegte Sport und die bewegende Kunst."

    Im weiteren Verlauf schilderte sie die mühsame Probenarbeit für "Das Martyrium des Heiligen Sebastian". Dafür hatte sie bei dem italienischen Schriftsteller Gabriele D'Annunzio ein Libretto in Auftrag gegeben, die Musik schrieb Claude Debussy.

    Seit ihrem ersten Auftritt lagen der hoch gewachsenen, schlanken, dunkelhaarigen Russin die Schriftsteller, Komponisten und Künstler zu Füßen. Ihr Freundeskreis war die künstlerische Avantgarde, sie selbst eine der schillerndsten Figuren dieser Szene. Berühmt für ihre erotisch-exotisch-expressiven Bühnenauftritte, aber auch bekannt für ein exzentrisches und unkonventionelles Privatleben. Nach dem Ersten Weltkrieg inszenierte und tanzte sie vor allem an der Pariser Oper. 1928 gründete sie eine eigene Balletttruppe. 1934, als Mittvierzigerin, tanzte sie das letzte Mal. Da hatte schon ihre in einem siebenjährigen Briefwechsel gut dokumentierte Freundschaft mit dem Schriftsteller Paul Claudel begonnen. Durch seinen Einfluss konvertierte sie zum Katholizismus. 1938 feierte sie in Arthur Honeggers Oratorium "Johanna auf dem Scheiterhaufen" nach dem Libretto von Paul Claudel noch einmal Bühnentriumphe mit einer Sprechrolle.

    Doch für die Nationalsozialisten war Ida Rubinstein vor allem eins: Jüdin. Ihre Flucht nach England bedeutete das Ende ihrer Karriere als Künstlerin. Nach dem Zweiten Weltkrieg verkaufte sie ihr Pariser Haus und zog nach Vence in Südfrankreich. Dort lebte sie zurückgezogen, las die Bibel und fuhr gelegentlich in ein Kloster. Als sie am 20. September 1960 starb, druckten die Zeitungen erst vier Wochen später einen Nachruf mit der Schlagzeile: "Eine Unbekannte, einst Berühmte".