Renschke: Dieses Gericht gibt es ja wohl noch nicht. Wie müsste es ausgestaltet werden, von wem und wie?
Kälin: Rein rechtlich gesehen wäre es möglich, dass es ein rein irakisches Gericht ist. Die Staaten sind verpflichtet, strafrechtlich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf ihrem Territorium zu verfolgen nach der eigenen Strafgesetzgebung. Ich denke allerdings, dass das nicht eine ideale Lösung ist, wenn es sich um ein rein nationales Gericht handelt. Zu empfehlen wäre wohl eher ein Gericht mit internationaler Beteiligung.
Renschke: Diese Nachteile sind ja im Zusammenhang mit dieser Diskussion schon erörtert worden. Ist das auch Ihre Meinung, dass ein irakisches Gericht zu wenig Distanz hat oder zu wenig distanziert ist gegenüber der Person des dort Angeklagten und der Taten, die ihm zur Last gelegt werden?
Kälin: Es geht ja bei der strafrechtlichen Beurteilung um zwei Dinge: Einerseits die Frage der Schuld, die Frage der angemessenen Bestrafung; auf der anderen Seite dient ein solcher Prozess aber natürlich auch der Vergangenheitsbewältigung. Ich glaube, in beiden Punkten ist ein rein irakisches Gericht mit gewissen Problemen konfrontiert. Die Ereignisse liegen zu wenig lang zurück, als dass irakische Richter hier völlig unabhängig an die Sache rangehen können. Was aber auch ganz wichtig ist: Die Rechtslage ist eine relativ komplizierte. Wenn wir uns anschauen, mit wie viel Akribie und mit wie vielen juristischen Problemen die Gerichtshöfe für Ruanda und in Den Haag für das frühere Jugoslawien zu tun haben, dann setzt das viel an Wissen, Kenntnis und eben auch Distanz voraus. Nun, die Distanz ist nicht nur wichtig für den Angeklagten – auch jemand wie Saddam Hussein hat Anspruch auf einen fairen Prozess -, sondern ich denke, noch wichtiger ist der Aspekt der Vergangenheitsbewältigung. Ein Gericht, das man im Nachhinein den Vorwurf machen kann, Rachejustiz geübt zu haben, hilft eben nicht dazu, einen neuen Staat zu ermöglichen, sich der Vergangenheit zu stellen und die schrecklichen Ereignisse aufzuarbeiten.
Renschke: Was könnte denn ein Gericht über das Juristische hinaus tun und beitragen zu der von Ihnen erwähnten Vergangenheitsbewältigung oder, um ein anderes Wort zu nehmen, Aufarbeitung der Vergangenheit?
Kälin: Ein Gericht ist nicht eine Historikerkommission oder so etwas. Ein Gerichtsverfahren reduziert sehr komplexe Fakten immer auf die Straftaten, die zu beurteilen sind. Mit anderen Worten: Man kann und darf von einem solchen Gericht beispielsweise nicht erwarten, abschließend Stellung zu nehmen zur jetzt ja auch diskutierten Frage, wie weit ist Saddam Hussein aufgebaut worden von Staaten wie Frankreich oder auch den USA. Hingegen kann ein Gericht Licht reinbringen ins Dunkle bezüglich Schuldfragen, wer hat in welchem Ausmaß Schuld zu tragen, und zweitens kann ein Gericht eben auch die Fakten feststellen – Fakten sind ja immer umstritten -, das Ausmaß, was ist genau passiert, und ein juristisches Beweisverfahren kann ja doch sehr viel Licht ins Dunkle bringen.
Renschke: Also ginge es dann auch, wenn Saddam Hussein vor diesem Gericht steht, nicht nur um die strafrechtliche Verantwortung dieses einen Individuums?
Kälin: Es geht auch um die Verantwortung des Individuums im System. Wir sehen das deutlich in historischer Perspektive mit den Nürnberger Prozessen, und wir sehen es jetzt aktuell wieder mit dem Prozess gegen Milosevic in Den Haag. Es handelt sich bei jemanden wie Saddam Hussein ja nicht um den vereinzelten Straftäter, der irgendwo die rechte Bahn verlassen hat, sondern um jemanden, der für ein menschenverachtendes System verantwortlich ist, es aufgebaut hat und da eine zentrale Rolle gespielt hat.
Renschke: Mit dem Hinweis auf Milosevic schlagen Sie den Bogen zu einem internationalen Gericht, wenn gleich Sie vorhin ja gesagt haben, Sie gehen davon aus, dass Saddam Hussein vor ein irakisches Gericht gestellt wird. Wäre ein solcher internationaler Gerichtshof nicht doch eher das angemessenere Instrument?
Kälin: Das Beispiel von Milosevic zeigt, dass ein rein internationales Gericht auch mit Nachteilen verknüpft ist. Das Land, das eigentlich selbst die Vergangenheit aufarbeiten müsste, wird gewissermaßen aus der Verantwortung entlassen. Man delegiert die ganze Aufgabe einer internationalen Instanz, die möglicherweise weit weg ist. Für mich im Fall Irak wäre am idealsten ein Modell wie es jetzt von der UNO adoptiert und aufgebaut worden ist in Kambodscha und in Sierra Leone. Das sind Tribunale, die getragen werden vom betreffenden Land selbst und von der internationalen Staatengemeinschaft auf der Basis einer Vereinbarung. Konkret: Beide Gerichte in Kambodscha und in Sierra Leone sind eben zusammengesetzt mit nationalen Richtern und Richterinnen und internationalen, und diese Gerichte bekommen den ganzen Expertensupport von internationaler Ebene und auch die internationale Legitimität. So etwas würde ich selbst für den Irak empfehlen und für sachgerecht halten.
Renschke: Wie lange wird es nun dauern, bis ihm der Prozess gemacht wird? Wie lange darf es nun dauern?
Kälin: Wenn der Prozess ein fairer sein soll, dann wird es einige Zeit dauern, weil die Anklage sehr sorgfältig vorbereitet werden muss. Wir haben es ja mit einer sehr langen Liste von potentiellen Anklagepunkten zu tun, die sich über eine sehr lange Zeit hinwegstrecken. Das beginnt mit Kriegsverbrechen, etwa der Einsatz von Giftgas im Krieg gegen den Iran, das betrifft das Vorgehen gegen die Kurden beispielsweise wieder mit Giftgas, anzusprechen ist die Besetzung von Kuwait, dann die Unterdrückung der Schiiten im Südirak nach dem Rückzug aus Kuwait und schließlich die ganze Dimension der politischen Verfolgung gegen Regimegegner innerhalb von Irak. Will man das alles sorgfältig abklären und aufarbeiten und eben dann auch dem Individuum Saddam Hussein die Schuld nachweisen können, dann lässt sich das nicht so leicht übers Knie brechen. Ein sehr schneller Prozess hätte doch den Anschein von Siegerjustiz und von Rache, und das wiederum würde nicht beitragen, hier die Vergangenheit aufarbeiten zu können.
Renschke: Vielen Dank für das Gespräch.