Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Prozessauftakt
Stuttgart 21: Polizisten weisen Vorwürfe zurück

Dutzende Menschen wurden verletzt, einer erblindete - am "Schwarzen Donnerstag" der Stuttgart-21-Proteste vor knapp vier Jahren. Ein Prozess soll die Verantwortung klären: Die damaligen Polizeiführer sprechen von Dienst nach Vorschrift. Die Kläger haben auch die Politik im Visier.

Von Michael Brandt, Stuttgart | 24.06.2014
    Dietrich Wagner (2.v.l), Nebenkläger im Wasserwerfer-Prozess, sitzt am 24.06.2014 zusammen mit dem Anwalt Frank-Ulrich Mann (l) beim Beginn des Wasserwerfer-Prozesses in einem Gerichtssaal im Landgericht in Stuttgart (Baden-Württemberg).
    Dietrich Wagner (2.v.l), Nebenkläger im Wasserwerfer-Prozess, erblindete am "Schwarzen Donnerstag". (dpa/Bernd Weißbrod)
    41 Jahre ist einer der angeklagten Polizeiführer alt. Er ist braungebrannt, wirkt sportlich und lässt sich zumindest äußerlich von dem großen Medienandrang und dem der Stuttgart-21-Gegner im Gerichtssaal nicht aus der Ruhe bringen. Sein Kollege ist 48, wirkt deutlich älter; an ihm fallen die Mundwinkel auf, die sich vermutlich im Laufe einer langen Polizeilaufbahn tief nach unten gezogen haben.
    Beide haben eine blitzsaubere Karriere bei der baden-württembergischen Polizei hinter sich. Einstieg nach der Mittleren Reife als Streifenbeamte, Polizeischule, irgendwann Führungsakademie und seit Jahren erfahrene Polizeiführer. Der Jüngere war 2010 der Leiter des Stuttgarter Polizeireviers, zu dem der Schlossgarten gehört, der andere Einsatzleiter bei der Bereitschaftspolizei in Böblingen.
    Und beide gemeinsam waren am 30. September 2010 im Stuttgarter Schlossgarten und koordinierten den fatalen Polizeieinsatz mit Wasserwerfern und Schlagstöcken.
    In der Hierarchie der Polizei waren sie die Schnittstelle zwischen der Einsatzleitung im Polizeipräsidium und den Hundertschaften vor Ort. Ihnen wirft die Staatsanwaltschaft nun - vier Jahre nach dem schwarzen Donnerstag - fahrlässige Körperverletzung durch Unterlassung vor
    "Wir werfen den Angeklagten vor, dass sie ihre Sorgfaltspflicht verletzt haben, indem die nicht einschritten, als die Wasserwerfervesatzungen mehrmals mit Wasserstrahlen auf die Demonstranten zielten und damit mindestens neun Demonstranten verletzt wurden",
    so Claudia Krauth, die Sprecherin der Staatsanwaltschaft Stuttgart. Ein Grund für den späten Prozessauftakt waren laut Krauth die umfangreichen Ermittlungen, die Auswertungen des gesamten Videomaterials des Einsatzes, die Aufarbeitung der gesamten Funkprotokolle. Zudem wurde in Teilen rechtliches Neuland betreten, da es so gut wie keine Rechtsprechung zu Wasserwerfereinsätzen gibt.
    Dietrich Wagner erblindet fast völlig
    Das Ergebnis war jedenfalls eine rund 20-minütige Anklageschrift, in der die Staatsanwälte den beiden Angeklagten vorwerfen, einen Befehl der Einsatzleitung nicht weiter an die Wasserwerfer gegeben zu haben: Dass nämlich die Wasserwerfer um die Mittagszeit nur für sogenannten Wasserregen freigegeben waren, das heißt dass keine gezielten sogenannten Wasserstöße auf die Menschen genehmigt waren - und schon gar nicht ins Gesicht.
    Insgesamt geht es in der Anklage um neun Verletzungen von Demonstranten, die konkret nachgewiesen werden können. Die schlimmste Verletzung hat Dietrich Wagner erlitten, der seit dem Wasserwerfereinsatz, trotz fünf Operationen fast völlig erblindet ist. Wagner trat als einer von sechs Nebenklägern vor Gericht auf:
    "Ich habe natürlich sehr an Selbstständigkeit verloren, ich bin ziemlich von meiner Lebenspartnerin, die ich Gott sei Dank habe, abhängig, weil ich als Fast-Blinder wenig selber machen kann. Also, ich kann mich nicht mehr selber rasieren."
    In der Nähe der Wasserwerfer - oder nicht?
    Die beiden Angeklagten beantworteten zunächst nur Fragen zur Person, zur Sache verlasen ihre Anwälte eine Erklärung, in der sie alle Vorwürfe entschieden zurückwiesen. Die Beweisaufnahme werde belegen, dass sie keinerlei Verantwortung an den Verletzungen hätten, und dass sie zu jeder Zeit vorschriftsmäßig gehandelt hätten.
    In zwei Punkten widersprachen die Verteidiger dabei der Staatsanwaltschaft. Zum einen gingen sie auf die Anweisung der Einsatzleitung, dass nur Wasserregen genehmigt sei, nicht weiter ein, sondern verwiesen auf die sogenannte Freigabe zur Ausübung des unmittelbaren Zwangs, den der Polizeipräsident schon vor zwölf Uhr mittags gegeben habe. Zum anderen erklärten sie, dass die beiden Polizeiführer von den Verletzungen bei den Demonstranten nichts bemerkt hätten. Unter anderem, weil es Probleme mit der Funkverbindung gab.
    Das jedoch erscheint wenig glaubwürdig. Denn nach eigener Angabe hielten sie sich in der Nähe der Wasserwerfer auf, und von dort war die Auseinandersetzung gut zu beobachten. Entsprechend fällt auch im Anschluss die Bewertung der Nebenkläger Dietrich Wagner und Alexander Schneider aus:
    "Dann haben sie es auch ohne Funkgerät mitbekommen, dann ist die ganze Verteidigung zumindest in dem Punkt eine Lüge. Sie sind ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden. Die Aussage, sie hätten nicht mitbekommen, dass so viele Personen verletzt wurden über vier bis fünf Stunden ist unglaubwürdig. Insofern ist sicherlich die Schuld bei den Angeklagten vorhanden."
    Mappus im Visier
    Die Nebenkläger betonen aber auch, dass die beiden Polizeiführer aus ihrer Perspektive keineswegs die einzig Verantwortlichen für den Polizeieinsatz im Schlossgarten seien. Um Rechtsfrieden herzustellen, so Frank Ulrich Mann, der Anwalt von Dietrich Wagner, müsse auch die politische Verantwortung geklärt werden
    "Wir wolle auch nachweisen, dass es eine direkte politische Einflussnahme insbesondere durch den damaligen Ministerpräsidenten Mappus gab. Deshalb habe ich auch schon angekündigt, einen Beweisantrag zu stellen, der den Herrn Mappus hierher zitiert als Zeuge."
    Für den Prozess sind 30 Verhandlungstage eingeplant, er wird sich voraussichtlich bis weit in den Herbst ziehen.