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Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung

"He, Sie da!" Barsch schallt die Stimme durch die Luft und macht aller unbeschwerten Laune ein Ende. Vielleicht ist es Sommer, Sonnenstrahlen tanzen durch die Straßen, man freut sich des Lebens - und dann dieser Ruf. Man weiß, von wem er kommt: Gerade, vor wenigen Metern, spazierte man an ihm vorbei, dem Polizisten dort auf dem Bürgersteig. Aber warum in aller Welt ruft er mich an? Er wird es wissen. Schuldbewusst drehe ich mich also um.

Kersten Knipp | 21.02.2002
    Die kleine Drehung zurück ist für den französischen Philosophen Louis Althysser die Urszene aller Subjektwerdung. In diesem Schwank um 180 Grad sieht er in geradezu archetypischer Reinheit die Bedingung, unter denen der einzelne - und der einzelne sind wir alle - zu erkennen gibt, wem er sein Dasein als bürgerliches Subjekt überhaupt erst zu verdanken hat: der Mutter nicht, dem Vater nicht, sondern der Macht, genauer: der Macht des Staats. Der Angerufene akzeptiert den Ruf des Gesetzes, und obwohl der Ruf anonym bleibt, - "He, Sie da!" kann schließlich jeden Passanten auf der Straße meinen -, dreht er sich um. Denn er weiß, er könnte ihm, dem Bürger, gelten, der vielleicht etwas - was, weiß er zunächst selber nicht - verbrochen haben könnte. Die Schuld ist eine mögliche, und dass der Passant sie bei sich zunächst nicht ausschließt: Genau das macht nach Althusser den großen Disziplinierungserfolg des Staates aus. Die Stimme des Gesetzes ruft den Bürger an - und konstituiert ihn dadurch erst als solchen. Fast möchte man dankbar sein, in seiner wesentlichsten, eben der staatsbürgerlichen Rolle von hoher, eben polizeilicher, Stelle anerkannt zu werden. Selten kommt unsere, Zitat, "Komplizenschaft mit dem Gesetz" eleganter zum Ausdruck als in dieser kleinen Drehung um 180 Grad, nichts drückt diskreter unser Begehren aus, noch einmal Zitat, "vom Angesicht der Autorität gesehen zu werden und vielleicht auch selbst das Angesicht der Autorität zu sehen".

    Theories in Subjection heißt im englischen Original der Untertitel von Judith Butlers gerade auf deutsch erschienener Studie über das Subjekt der Unterwerfung. "Subjection" bedeutet "Unterwerfung", und der englische Begriff lässt eine Bedeutung erkennen, die das deutsche Wort "Subjekt" gnädig verschweigt. "Subjekt" kommt von lateinisch "subjectum", "das Unterworfene". Die Subjektwerdung des Subjekts kennt also schon in rein etymologischer Sicht nicht nur eine aktive, sondern auch eine passive Seite. Und wie dieser kleine sprachgeschichtliche Wink philosophisch zu erhärten ist, das ist das große Thema von Judith Butlers neuem Buch.

    "Subjektivation", heißt es darum auf den ersten Seiten, "besteht eben in dieser grundlegenden Abhängigkeit von einem Diskurs, den wir uns nicht ausgesucht haben, der jedoch paradoxerweise erst unsere Handlungsfähigkeit ermöglicht und erhält." Das Subjekt blickt in dieses es umgebende gesellschaftlich-symbolische Universum, erkennt sich darin wieder und bildet darüber ein Bewusstsein seiner selbst. Mehr noch: Die Unterordnung scheint ihm als Voraussetzung seiner Existenz überhaupt, auch wenn es diese Erkenntnis nach Kräften zu umgehen sucht. Zitat: "Das Ich entsteht unter der Bedingung, dass es seine Formierung in Abhängigkeit, dass es seine eigenen Möglichkeitsbedingungen verleugnet."

    Eine ernüchternde Erkenntnis, die Butler auch auf ihren philosophiegeschichtlichen Expeditionen in die Schriften Hegels, Nietzsches, Freuds, Foucaults und des bereits erwähnten Althussers belegt findet. Doch indem sich das Subjekt der Macht unterwirft, wird es ein Teil von ihr, kann sich nun selbst als Machthabendes fühlen, es lebt nun mit dem schmeichelhaften Eindruck, selbst ein Teil der Macht zu sein. In anderen Worten: Es verkörpert jenen Typ von Selbstverständnis, den die deutsche Bedeutung des Begriffs "Subjekt" suggeriert - demjenigen zumindest, der etymologisch nicht allzu bewandert ist.

    Doch bleibt diese ernüchternde Erkenntnis wirklich das letzte Wort? Nach Butlers Lesart größtenteils ja. Vorstellbar wäre allenfalls eine, Zitat, "Umbildung der normativen Fesseln", "eine leidenschaftliche Befreiung des Selbst von Kontrollen". Aber große Hoffnungen macht sie uns kaum. Denn wenn wir, die Subjekte, Prokukte der Macht sind, ist diese unseren Handlungen immer schon voraus. In Butlers Worten: "Die Handlungsfähigkeit des Subjekts erscheint als Wirkung seiner Unterordnung. Jeder Versuch des Widerstands gegen diese Unterordnung setzt diese notwendig heraus und ruft sie erneut hervor."

    Theoretisch sind Butler Thesen nicht zu widerlegen. Wohl aber zu schwächen, nämlich durch den Hinweis, dass sie schlicht zu theoretisch argumentiert. Denn ihre Ausführungen geraten in allzu große Nähe zum Absoluten; sie treffen zu, wenn man sie auf die unhintergehbaren, ahistorischen Grundbedingungen der menschlichen Existenz bezieht. Denen zu entkommen, ist in der Tat unmöglich.

    Dass es aber auch eine Nummer kleiner geht und die Voraussetzungen der Macht dann durchaus zu verändern sind: Das hat Judith Butler selbst bereits auf das Nachhaltigste bewiesen. Als Vordenkerin der feministischen und homosexuellen Bewegung hat die Professorin für Rhetorik entscheidend dazu beigetragen, das bis vor einigen Jahren noch so unerschütterlich scheinende Dogma der Heterosexualität als verpflichtende Norm gründlich aus den Angeln zu heben.

    Ihr folgenreicher argumentativer Schachzug bestand in der Behauptung, dass unsere Handlungen, Gesten und Sprache nicht schlichter "Ausdruck" einer gegebenen Geschlechtszugehörigkeit sind, sondern im Gegenteil Annäherungen an eine idealtypische Geschlechtlichkeit. Durch unser gesamtes Benehmen erschaffen und sichern wir Vorstellungen des Geschlechtlichen - von dem es, da es kulturell und damit konstruiert ist, durchhaus Abweichungen geben kann: eben auch solche homosexueller Provenienz.

    Butlers folgenreiche, auf große Teile der Schwulen- und Lesbenbewegung überaus befreiend wirkende Bücher wurden Anfang der 90er Jahre, zu Hochzeiten des Dekonstruktivismus, geschrieben. Damals, zu Zeiten hochtönender Lieder auf die "Kontingenz", die Relativität allen menschlichen Lebens, ließen sich strikt biologisch-naturwissenschaftliche Einwände gegen Butlers These sicher etwas leichter überhören als heute. Doch die damals überschwenglich gefeierte Dekonstruktion lieferte ihren Adepten Argumente an die Hand, mit denen sich scheinbar selbstverständlich scheinende Gewissheiten auf das eleganteste auseinandernehmen ließen. Der Homosexuellenbewegung tat das nur gut. Zu gut vielleicht, wenn man nun Butlers jüngstes Buch liest. Der politische Druck seiner Vorgänger fehlt ihm, und das könnte auch bedeuten, dass die Homosexuellenbewegung ihr Ziel - gleiche Anerkennung - weitestgehend erreicht hat. So liest sich die "Psyche der Macht" als zwar beeindruckende, aber akademisch, allzu akademisch anmutende Gedankenkunst.