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Psychiatrie in Not

Einst galt Frankreichs Psychatrie als weltweit die beste. Doch die Situation hat sich grundlegend geändert. Allein in den staatlichen Krankenhäusern sind 700 Stellen für Psychiater unbesetzt. Ein Grund, warum immer mehr psychisch kranke Menschen im staatlichen Gesundheitswesen vernachlässigt werden und auf der Straße landen. Bettina Kaps berichtet aus Paris.

02.12.2008
    Eine Baustelle im Süden von Paris: Eine letzte Mauer schirmt das psychiatrische Krankenhaus Sainte Anne noch von der Außenwelt ab - jetzt wird sie abgerissen. Ganz im Sinn der modernen Psychiatrie, deren Ziel es ist, Menschen mit seelischen Krankheiten möglichst in die Gesellschaft einzugliedern.

    Aber während das Loch in der Mauer immer größer wird, berät die französische Regierung über eine Verschärfung der Zwangseinweisung in geschlossene Anstalten. Noch vor Jahresende, so verlangt es der Staatspräsident, soll der Freigang für internierte Patienten erschwert und eine Kartei aller seelisch kranken Menschen angelegt werden, die zwangseingewiesen wurden. Nicolas Sarkozy will damit verhindern, dass psychisch Kranke zur Gefahr für ihre Mitmenschen werden, wie es kürzlich bei der Messerattacke in Grenoble geschah.

    Viele Psychiater halten die Verschärfung der geltenden Bestimmungen jedoch für falsch. So auch Franck Chaumon, der mehrere Bücher über das Verhältnis von Psychiatrie und Justiz veröffentlicht hat.

    "Die Regierung bedient sich eines tragischen Zwischenfalls und gibt jetzt vor, dass sie das Problem im Handumdrehen lösen wird. Dabei suggeriert sie: Psychisch kranke Menschen sind unberechenbar und gefährlich. Was für einen gilt, soll nun alle betreffen. Wir befürchten, dass Geisteskrankheit in Zukunft wieder mit Polizei-Methoden behandelt wird. Das ist unsinnig und besorgniserregend. "

    Alle Statistiken zeigen, sagt Chaumon, dass es unter den Patienten nicht mehr Kriminelle gebe als in der gesunden Bevölkerung. Das eigentliche Problem liege anderswo:

    "Die französische Psychiatrie galt weltweit als eine der Besten. Aber seit 20 Jahren geht es mit ihr bergab. Niemand spricht über die Bedingungen, unter denen diese Menschen behandelt werden. Nur eine Zahl: In den staatlichen Krankenhäusern sind 700 Stellen für Psychiater unbesetzt. "

    20 Kilometer östlich von Paris liegt das psychiatrische Krankenhaus Maison-Blanche, ein ehemaliges Landschloss aus rotem Backstein mit einem riesigen Park. Bis in die 80er Jahre gab es dort 2400 Betten für seelisch kranke Patienten aus Paris. Heute sind nur noch 150 Betten übrig geblieben. Denn im ganzen Land wurde die Psychiatrie gründlich umstrukturiert. Die Patienten werden heute überwiegend in kleineren Kliniken in der Innenstadt behandelt. Aber die geplanten alternativen Betreuungsstätten wurden nicht geschaffen, aus Kostengründen. Marie-Claire Lafon arbeitet seit 37 Jahren als Krankenschwester in Maison-Blanche.

    "Innerhalb von zehn Jahren hat die Psychiatrie 40.000 Betten und 25000 Krankenschwestern verloren. Das wirkt sich auf die Pflege aus. Gespräche und Zuhören sind unsere wichtigsten Mittel, um das Leid der Patienten zu begreifen. Aber bei zwei Pflegern für 25 bis 30 Kranke können wir diese Arbeit einfach nicht mehr leisten. Wir können nur noch Medikamente verabreichen ... "

    Früher, sagt die energische kleine Frau, konnten die Patienten bleiben, bis sie psychisch stabilisiert waren, selbst wenn das Monate dauerte. Heute gibt es dafür keinen Platz mehr.

    "Immer wieder rufen uns Kollegen von außerhalb an und drängen: Habt Ihr nicht ein freies Bett? Dann gehen die Ärzte durch die Station und überlegen: Welcher der Patienten ist einigermaßen stabilisiert? Wenn derjenige ein Zuhause hat, lässt sich eine frühzeitige Entlassung noch verantworten. Andernfalls kann es schlimme Folgen haben, insbesondere, wenn ein Patient seine Medikamente absetzt. "

    So kommt es, dass immer mehr psychisch kranke Menschen im staatlichen Gesundheitswesen vernachlässigt werden und auf der Straße landen. Von dort ist der Weg ins Gefängnis oft nicht mehr weit. Luc Massardier ist Vize-Präsident der Vereinigung der Gefängnispsychiater: Sieben Prozent aller Gefangenen seien schizophren, sagt der Arzt, und mehr als die Hälfte litten unter Persönlichkeitsstörungen.

    "Das Strafrecht in Frankreich wird immer strenger. Patienten mit seelischen Störungen werden zunehmend für juristisch zurechnungsfähig erklärt. Das liegt auch daran, dass man nicht mehr weiß, wo man sie sonst hinschicken soll. Im Gefängnis, so denkt man, werden sie niemandem gefährlich. Wir erleben, wie die Gefängnisse die Rolle der psychiatrischen Krankenhäuser übernehmen, weil diese ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen können. "

    Der Psychiater Franck Chaumon hat vor wenigen Tagen eine Petition veröffentlicht, in der er sich dagegen wehrt, dass die "Medizin als Hilfsmittel zur Überwachung und Freiheitsberaubung" missbraucht werden soll. 4500 Psychiater haben sofort unterschrieben.