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Psychische Störungen
Normaler Arbeitsalltag hilft Betroffenen

Immer mehr Menschen werden aufgrund einer psychischen Störung krankgeschrieben oder frühzeitig in Rente geschickt. Wie schwierig es ist, seine Arbeitsstelle zu behalten oder eine neu zu gewinnen, darüber diskutierten Experten und psychisch Kranke auf einer Tagung in Berlin.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 14.01.2014
    Thomas Müller-Rörich war Chef eines Elektronik-Betriebs mit zwölf Angestellten, als er an einer schweren Depression erkrankte. Sechs Jahre lang hatte er damit zu tun, erzählt er auf der Tagung "Arbeit für psychisch Erkrankte" in Berlin. Heute hält er als Vorsitzender der "Deutschen DepressionsLiga" Seminare in Unternehmen, um darüber aufzuklären, was psychische Erkrankungen sind. Viele Menschen hegten darüber "abenteuerliche Vorstellungen":
    "Psychisch Kranke wollen ganz normal arbeiten"
    "Das, was wir in diesen Kursen vermitteln, ist vor allem das Eine: Ein psychisch Erkrankter braucht überhaupt keine Sonderbehandlung. Im Gegenteil, die will er überhaupt nicht. Der will einfach nur ganz normal arbeiten, normale soziale Kontakte haben. Das, was er vielleicht mehr braucht, als der nicht psychisch-kranke Mensch, ist eine noch größere Wertschätzung, ein noch größeres Wertlegen auf ein gutes menschliches Umgehen. Weil er viele Dinge sehr negativ sieht, leicht krummnimmt, einen lockeren Scherz vielleicht schon als Beleidigung empfindet."
    Die Experten zeigten sich einig, wie wichtig Arbeit beziehungsweise Aktivität ist. Häufig sei es kontraproduktiv, Menschen mit psychischen Störungen schonen zu wollen und sie für längere Zeit als erwerbsunfähig aus dem Berufsleben heraus zu nehmen. Steffi Riedel-Heller leitet das Institut für Sozial- und Arbeitsmedizin an der Universität Leipzig:
    "Zu den wichtigsten Bedürfnissen von Patienten zählt normale Arbeit. Das heißt Arbeit im ersten Arbeitsmarkt. Und es geht um Identität, um Struktur, und es geht auch darum, was zu leisten, einen Beitrag zu leisten in der Gesellschaft. Und natürlich um Einkommen, das unsere Möglichkeiten erhöht."
    Aktuelle Studien belegen einen engen Zusammenhang zwischen psychischer Erkrankung und "Nicht-Arbeit". Das Robert-Koch-Institut hat mit der TU Dresden heraus gefunden, dass vor allem schwer psychisch erkrankte Menschen im Alter bis 49 Jahre deutlich häufiger arbeitslos oder berentet sind als leichter Erkrankte oder Gesunde.
    Und das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung legt neue Zahlen auf den Tisch, nach denen mehr als ein Drittel der Hartz-IV-Empfänger und damit rund 1,4 Millionen Menschen mindestens eine psychiatrische Diagnose innerhalb eines Jahres aufweisen.
    Betroffene finden Arbeit in geschützten Bereichen
    "Wenige Menschen, insbesondere mit schweren psychischen Störungen, sind auf dem ersten Arbeitsmarkt. Werkstätten für Behinderte gelten als Auffangbecken. Und eine große Zahl von Frühberentungen."
    Der Trend, dass immer mehr Menschen mit psychischen Störungen Arbeit im geschützten Bereich, etwa in Werkstätten für Behinderte oder in Integrationsfirmen finden, bestätigt Janine Berg-Peer vom Verein "Angehörige psychisch Kranker". Sie berichtet über die Krankheitserfahrungen ihrer Tochter und kritisiert mangelhafte Informationen sowie ein System der Entmutigung:
    "Man wird viel zu früh in Rente reingeschubst. Kennt meine Tochter auch, ist wütend, dass sie Rente hat. Will sie nicht. Aber das ist eben so entschieden worden. Was ich für ein gravierendes Problem halte: Es sind nicht nur die Ärzte, die nicht in die Arbeit reinschubsen, sondern das gesamte System. Es gibt eine Überfürsorge von Ärzten und all denen, die an dem Prozess beteiligt sind, die aber eine Überfokussierung auf Krisenvermeidung haben."
    Statt im Arbeitsleben zu pausieren und nach Trainings oder Umschulungen mühsam wieder einzusteigen, stehen jetzt innovative Formen wie Teilkrankschreibungen zur Diskussion. Besser sei, im Job zu bleiben und sich bei Konflikten oder Ängsten von einem Jobcoach und dem Therapeuten beraten zu lassen. Diese, in Deutschland bislang wenig verbreitete, Methode setzt auf Kommunikation und Kooperation auch mit dem Arbeitgeber. Sie sichere den Betroffenen bessere Chancen auf dem "normalen" Arbeitsmarkt.
    "Im Vergleich zu Berufsvorbereitungstraining bewirkt unterstützte Beschäftigung einen starken Anstieg der Quote kompetitive Beschäftigung, höhere monatliche Arbeitszeit, höheren Verdienst und mehr Wochen pro Jahr auf dem ersten Arbeitsmarkt."