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Psychogramm eines verletzten Mannes

Heinrich von Pierer war Vorstandsvorsitzender von Siemens und Vorzeigechef der Deutschland AG. Dann kam 2006 der tiefe Fall. Da rückten die Staatsanwälte in der Konzernzentrale an und deckten ein Ausmaß an Korruption auf, das bis dahin als unvorstellbar galt.

Von Thomas Fromm |
    Als der damalige Siemens-Aufsichtsratschef Heinrich von Pierer im Januar 2007 vor seine Aktionäre tritt, ist alles anders als in den Jahren davor. Drei Monate vor der Hauptversammlung in der Münchner Olympiahalle hatten Ermittler die Zentrale des Technologiekonzerns durchpflügt und den wohl größten Korruptionsskandal der deutschen Wirtschaftsgeschichte aufgedeckt. Deswegen geht es an diesem eisigen Münchner Januartag nur am Rande um das Industriegeschäft von Siemens. Vorne auf dem Podium kämpft ein Mann verzweifelt um seinen Ruf. Beteuert, dass er alles getan habe, um Korruption bei Siemens zu vermeiden. Zitiert die vielen Verhaltensregeln, die seine Mitarbeiter unter seiner Führung unterschreiben mussten. Schildert, wie er die Kontrollen ausgebaut hat, damit im weitverzweigten, weltweiten Netz des Konzerns alles sauber läuft. Es ist ein verzweifelter Kampf, und die meisten Zuhörer bleiben kühl. Es sind bleierne, lange Stunden, und es schwebt die immer gleiche Frage im Saal: Wie nur soll der Aufsichtratsvorsitzende von Pierer nun aufklären, was der Vorstandsvorsitzende von Pierer in all den Jahren davor nicht gesehen haben will?

    Es dauerte noch einige Monate, bis von Pierer schließlich als Chefkontrolleur zurücktrat. Und es dauerte noch einmal vier Jahre, bis der heute fast 70-jährige Mann seine Autobiografie vorlegte. Wer nun Inneneinsichten über das System Siemens erwartet, kann sich das Buch sparen. Keine neuen Enthüllungen, keine Geheimnisse aus dem Zentrum der Industriemacht, schon gar keine Systemkritik. In "Gipfel-Stürme" findet der Wirtschaftsskandal nur am Rande, am Ende des Buches statt. Auch das ist schon eine Botschaft. Sie lautet: Seht her, mein Leben, das ist mehr als die vergangenen vier Jahre. Auf den ersten 300 Seiten schreibt von Pierer so, wie Politiker und Topmanager schreiben, wenn sie ihre Biografien vorlegen. Detailverliebt. Um die eigene Person kreisend. Gelegentlich wirkt das unfreiwillig komisch.

    Eines Tages schenkte mir ein amerikanischer Soldat eine längliche gelbe Frucht. "Banane", erklärte er mir, "schmeckt gut." Und ich freute mich sehr. Doch die Enttäuschung konnte kaum größer sein: Der Geschmack war einfach widerlich; jahrelang wollte ich nie wieder etwas derart Ekliges wie eine Banane essen. Ja, der Soldat hatte schlicht versäumt, mir zu erklären, dass man eine Banane schälen muss, bevor man sie isst.
    Es sind die menschlichen Schilderungen aus den frühen Jahren des Autors, mit denen Heinrich von Pierer den Leser für sich gewinnen will. Wenn er schreibt, wie er als 20-Jähriger eines Nachts mit Freunden in den Swimmingpool in Nachbars Garten springt, und dann, von der Polizei aufgeschreckt, nackt durch die Vorgärten flüchtet. Von Pierer, der frühere Siemens-Patriarch, als jugendlicher Rebell – die Vorstellung hat einen gewissen Charme. Von Pierer hält vieles für berichtenswert. Seine ersten Einsätze in der Türkei, den "Flurfunk" beim Kantinenessen in München und Erlangen, die großen Firmenübernahmen, die große Politik von Helmut Kohl über Gerhard Schröder bis zu Angela Merkel. Die Arbeit im Asien-Pazifik-Ausschuss, die Aufbauarbeit des Konzerns in China. Nur: Vergeblich sucht der Leser in diesen Kapiteln nach irgendwelchen Hinweisen auf die 1,3 Milliarden Euro, die zwischen 1999 und 2006, also jenen Jahren, in denen von Pierer Vorstands- und Aufsichtsratschef war, in dunklen Kanälen versickert sein sollen. Auf die dubiosen Transaktionen, die intern mal "nützliche Aufwendungen", mal "vertrauliche Zahlungen" genannt wurden und vor allem ein Ziel gehabt haben sollen: Bei der Vergabe von Aufträgen nachzuhelfen. Davon habe er nichts gewusst, sagt von Pierer immer wieder. Und so schreibt er lieber von seinem großen Auftritt bei den Vereinten Nationen:

    Von der lokalen Politik durfte ich mich dann einmal in der Weltpolitik bewegen. Im April 2004 wurde mir die außergewöhnliche Ehre zuteil, vor dem UN-Sicherheitsrat in New York zu sprechen. Auch wenn mir ein wenig mulmig zumute war, zögerte ich keinen Moment, der ehrenvollen Einladung zu folgen, und nahm mir für die Vorbereitung viel Zeit.

    Er verbindet das Alltägliche des Privatlebens mit den großen Momenten des Topmanagers. So entsteht das Psychogramm eines verletzten Mannes, der sich bis nach ganz oben hochgearbeitet hat - und bis heute nicht verstehen kann, wie es dann plötzlich zu dem tiefen Fall kam. Von Pierer ist verletzt, denn Siemens nahm ihm, dem ausgeschiedenen Manager, die letzten Insignien der Macht: Dienstfahrer, Sekretariat, den Zugang zur Konzernzentrale. Von Pierer ist verletzt, denn es ist wohl einsam um den einstigen Topmanager geworden. Seine letzten Freunde aus alten Tagen – sie heißen Uli Hoeneß, Helmut Schmidt, Henry Kissinger. Viele andere haben sich im Laufe der Zeit abgewendet, und das schmerzt den alten Mann. Er fühlt sich um sein Lebenswerk gebracht. Nicht zufällig steht das Kapitel über die Monate nach dem Bekanntwerden der Affäre unter der Überschrift "Jagdsaison". Und von Pierer fühlt sich zu Unrecht gejagt – vor allem von den Medien; immer wieder nennt er namentlich die Süddeutsche Zeitung und ihre Siemens-Berichterstattung. Von Pierer akzeptierte einen Bußgeldbescheid über 250.000 Euro; und er verglich sich mit seinem früheren Arbeitgeber und zahlte fünf Millionen Euro. Wichtig ist dem früheren Siemens-Chef vor allem:

    Ein Vergleich sei kein Schuldanerkenntnis, wurde mir von Siemens gesagt. Das wurde im Vergleich auch ausdrücklich festgehalten.
    Einen Schlussstrich habe er setzen wollen, sagt er heute. Um zu einem "normalen, selbstbestimmten Leben zurückzufinden". Die letzten Kapitel des Buches sind damit noch nicht geschrieben. Zurzeit steht mit dem früheren Siemens-Manager Thomas Ganswindt erstmals ein Ex-Vorstand des Konzerns in München vor Gericht. Ganswindt stieg nicht nur unter von Pierer zum Topmanager des Konzerns auf – er war sogar mal als dessen Nachfolger im Gespräch. So bleibt dem Leser nach über 400 Seiten ein schaler Nachgeschmack. Und die Frage: Wie ist es nur möglich, dass ein Manager und großer Kommunikator wie von Pierer, der sein Unternehmen und seine Mitarbeiter eigentlich aus dem ff kennen musste, nichts von all dem mitbekommen hat?

    Heinrich von Pierers Autobiografie "Gipfel-Stürme" hat Thomas Fromm für uns gelesen. Das Buch ist im Econ Verlag erschienen, 432 Seiten kosten 24 Euro 99, ISBN: 978-3-430-20027-1.