Donnerstag, 16. Mai 2024

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Psychologe, Sozialarbeiter und oft auch Elternersatz

Den Lehrern, denen geht es ungefähr so wie dem Fußballbundestrainer: In Deutschland gibt es noch mindestens zehn Millionen Menschen, die fest davon überzeugt sind, den Job auf jeden Fall besser machen zu können als der aktuelle Amtsinhaber. Denn jeder hat entweder eigene Kinder in der Schule oder kennt Schüler oder war zumindest selber einmal Teil des Bildungssystems und deshalb fühlt sich auch jeder berufen, mitzudiskutieren, wenn es um die Misere in deutschen Klassenzimmern geht.

Moderation: Armin Himmelrath | 23.08.2006
    Armin Himmelrath: Doch wie das wirklich ist, wenn Pädagogen vor pubertierenden Horden ihr Nervenkostüm ruinieren oder auch, wenn sie mit spannenden Lernprojekten so genannte Problemschüler in ihren Bann schlagen, das wissen die Wenigsten. Heute Abend kann man diese Bildungslücke schließen, denn um 23 Uhr 15 zeigt die ARD den Dokumentarfilm "Beruf Lehrer". Wilma Pradetto ist eine der beiden Autorinnen dieses Films. Sie begrüße ich jetzt am Telefon: Tag, Frau Pradetto.

    Wilma Pradetto: Guten Tag, Herr Himmelrath.

    Himmelrath: Sie haben sechs Lehrer wochenlang mit der Kamera begleitet, haben Stärken und Schwächen des Bildungssystems am Beispiel der Tulla-Realschule in Mannheim dokumentiert. Das ist eine relativ normale Schule, kann man sagen. Was haben Sie mitgenommen aus Ihrem langen Besuch an der deutschen Bildungsfront?

    Pradetto: Ja also, wir haben versucht, so unbefangen wie möglich an das Projekt heranzugehen - so weit man das konnte bei dem, was man alles weiß und hört und erlebt. Und eines haben wir wirklich sehr schnell begriffen, dass die Arbeitsbedingungen immer schwerer werden für Lehrer, einfach weil die Anforderungen immer vielfältiger werden. Und dass natürlich Lehrer in dem Maße dafür weder gerüstet noch ausgebildet sind. Also das hat sich so gezeigt: Neben ihrem Lehrauftrag müssen sie tagtäglich - und das war wirklich so: tagtäglich - Psychologe, Sozialarbeiter oder oft auch Elternersatz spielen. Und das ist natürlich eine ganze Menge.

    Himmelrath: Gibt es da bestimmte Erlebnisse, die Sie besonders beeindruckt haben - positiv oder negativ?

    Pradetto: Ja, es gab so, also das fängt ja, es gibt ja, es ist ja permanent am Tag. Also das fängt ja bei Streitschlichtungen, die dann gemacht werden müssen innerhalb der 5-Minuten-Pause, weil sich zwei Schüler schlimmste Worte an den Kopf geworfen haben und eine Prügelei droht, bis hin, dass Bewerbungsunterlagen für einen Lehrstellenplatz dem Lehrer vorgelegt werden und gebeten wird: Na, habe ich das richtig geschrieben? Und so weiter und so fort.

    Himmelrath: Sie haben gerade das angesprochen: Streitschlichtung. Da werden schlimme Worte hin und her geworfen. Das zieht sich ja so ein bisschen als Thema durch ihren Film diese, ja, kann man schon sagen, sprachliche Verrohung an den Schulen, nicht?

    Pradetto: Ja, das hat uns eigentlich sehr erschreckt bei der Arbeit, dass diese sprachliche Verrohung so fortgeschritten ist, dass die Schülerinnen und Schüler diese Worte einfach spielerisch nahezu benutzen, also scheinbar spielerisch, sie denken gar nicht darüber nach. Und provozieren damit, sind sich aber, glaube ich, gar nicht im Klaren, welche Auswirkungen das zum Teil auf Jugendliche mit muslimischem Hintergrund hat. Also das endet dann sehr oft in Prügeleien. Und ich finde das Beispiel mit Zinedine Zidane zeigt erst, was das alles bedeutet. Also ...

    Himmelrath: Das sind, man muss das sagen ...

    Pradetto: ...das haben wir wirklich auch unterschätzt.

    Himmelrath: Ja. Das sind so Bezeichnungen wie "Hurensohn" zum Beispiel, ja?

    Pradetto: Zum Beispiel "Hurensohn" und "Arschficker" und was ... Diese Worten, die werden verwendet wie: "Ich gehe Kaffee trinken." Also das ist wirklich erstaunlich. Also die Lehrer dort sind dem natürlich begegnet und es gibt einfach auch Strafen.

    Himmelrath: Ja. Wie gehen die Lehrer damit um? Beschreiben Sie das mal. Das ist ja interessant.

    Pradetto: Ja, das war, zum Teil verbieten die Lehrer sich das natürlich in der Klasse. Das ist ja klar, da passiert das dann auch nicht, weil die Schüler natürlich doch Angst vor Sanktionen haben. Und wenn man dahinterkommt, dann versuchen sie eben, in Konfliktlösungsgesprächen dem näher zu kommen. Bis dahin, dass wenn das eskaliert, dass die Schüler auch von der Schule verwiesen werden.

    Himmelrath: Ja. Wie haben Sie die Lehrer selber wahrgenommen? Sie waren jetzt relativ lange dort vor Ort mit der Kamera. Gab es da eine Offenheit, auch von diesen Schwierigkeiten zu berichten? Oder hatten Sie das Gefühl: Na, die haben sich so ein bisschen verstellt, als wir da gedreht haben?

    Pradetto: Also das war so, dass am Anfang natürlich schon eine große Vorsicht da war und es einfach Zeit gebraucht hat, dass sie Vertrauen gewonnen haben. Es ist auch klar, nach all dem, was passiert ist in den letzten Jahren, dass sie da sehr vorsichtig waren. Also man merkt: Man braucht bei so einem Projekt einfach auch Zeit. Und sie haben einfach gemerkt, dass wir jetzt nicht inszenieren wollen und nicht forcieren, sondern wir haben einfach beobachtet und haben zugehört. Und irgendwann kam das dann von selbst. Es ist einfach auch eine Frage der Zeit, weil man kann sich nicht über Monate und ein Jahr verstellen.

    Himmelrath: Jetzt endet Ihr Film doch mit einer, na ja, so einer kleinen Ermutigung. Man geht da raus, guckt sich den an und denkt: Ach, es kann auch anders gehen, es ist gar nicht so schlimm in den deutschen Klassenzimmern. Teilen Sie das?

    Pradetto: Ja, also ich meine, das würde ich schon teilen und ich fand das auch sehr spannend, wie die Lehrer sehr unterschiedlich mit diesen oft, ja, sehr harten Situationen umgehen. Das beginnt, dass die Hauswirtschaftslehrerin ihre Wut im Auto auf dem Nachhauseweg rausschreit und sich dann einfach wieder besser fühlt. Oder dass in der Schulleitung ein Zitatklassiker hängt und das erzählt einfach was und da steht nämlich von Luther das Zitat: "Und wenn morgen die Welt untergeht, pflanze ich heute noch ein Bäumchen." Und so ein Klima habe ich in dieser Schule - oder haben wir in dieser Schule - schon erlebt.

    Himmelrath: Ein sehenswerter Film, der heute Abend in der ARD gezeigt wird um 23 Uhr 15, der Film "Beruf Lehrer", eine Dokumentation. Und herzlichen Dank an die Autorin Wilma Pradetto, Danke Ihnen.

    Pradetto: Danke.