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Psychologische Gutachten
Das Ringen um Maßstäbe

Der Einfluss von Gutachtern auf die Strafjustiz ist groß - oftmals mit verheerenden Folgen für die Betroffenen. Kriminalpsychologe Rudolf Egg gibt in seinem Buch "Die unheimlichen Richter" Einblick in den Alltag von Gutachtern und zeigt Fälle der Justizgeschichte, die zu Skandalen führten.

Von Gudula Geuther | 04.01.2016
    Mit einem Gerichtshammer verkündet der Richter sein Urteil. Hoffentlich gibt es einen Freispruch für Kakadu.
    Der Einfluss von Gutachtern auf die Strafjustiz ist umstritten (picture alliance / dpa / Andrey Starostin)
    Es gibt wohl wenige Berufe, die einen so fatalen Ruf haben, wie der des psychologischen und psychiatrischen Gutachters vor Gericht. Als Gerhard Schröder damals noch als Kanzler forderte, Sexualverbrecher solle man "wegsperren, und zwar für immer", da sprach er auch von einem "Kartell der Gutachter". Gemeint war das vermeintliche Kartell derer, die potentielle Täter zu schnell wieder aus der Sicherungsverwahrung auf die Menschheit losließen. Die sieben Jahre, die Gustl Mollath in der Psychiatrie verbrachte, beruhten unter anderem auf Gutachten von Sachverständigen, die ihn nie gesehen hatten.
    Spätestens seit dem Fall Mollath steht auch der umgekehrte Vorwurf im Raum: dass Menschen bedenkenlos weggesperrt würden. Mollaths Anwalt Gerhard Strate bezeichnete die forensische Psychiatrie als "Schmuddelecke".
    Mangelnde Qualifikation und wirtschaftliche Abhängigkeit
    Rudolf Egg, bis zu seiner Pensionierung langjähriger Leiter der Kriminologischen Zentralstelle des Bundes und der Länder in Wiesbaden und einer der renommiertesten psychologischen Gerichtsgutachter, will nun aufklären. Das Ringen um Maßstäbe für forensische Gutachten ist alt – und aktuell. Eine Dissertation kam vor wenigen Monaten zu dem Ergebnis, dass viele Gutachter wirtschaftlich von Gerichtsaufträgen abhängig sind und dass jeder vierte der befragten bayerischen Ärzte und Psychologen vom Gericht schon einmal einen Wink bekommen hat, wie das Ergebnis aussehen soll. Die mangelnde Qualifikation einiger Gutachter vor allem im Familienrecht brachte gerade das Bundesjustizministerium dazu, ein Gesetz mit schärferen Maßstäben auf den Weg zu bringen.
    Was Egg vorgelegt hat, ist allerdings kein rechtspolitisches Buch. Er selbst spricht vom "Werkstattraum" des Gutachters im Strafprozess, in den er den Leser mitnehmen will. Das wiederum funktioniert. Egg kombiniert dabei persönlich Erlebtes, Fälle, in denen er selbst Gutachter war, und die neuralgischen Fälle der Justizgeschichte, die zu Skandalen, aber auch zu Lernprozessen der Zunft führten. Er selbst sei eher hineingerutscht in das Metier, so beschreibt es Rudolf Egg. Das ist nicht selten. Bis heute gibt es in Deutschland keinen einzigen Lehrstuhl für Rechtspsychologie. In Eggs Fall war es ein universitärer Forschungsauftrag, der ihn zuerst in eine sozialtherapeutische Anstalt führte.
    "Was vermissen Sie denn am meisten hier? wollte ich zum Abschluss meines Zellenbesuchs neugierig wissen. Wie aus einem Munde schallte mir spontan der Ruf 'Sex!!!' entgegen. Ich schämte mich für meine dumme Frage und verabschiedete mich rasch. Erst später lernte ich jedoch, dass diese Antwort keineswegs einhellige und ehrliche Meinung aller Insassen war, doch sie war 'politisch korrekt'. Sie entsprach dem Bild, das Gefangene gern von sich zeichnen: Harte Männer, denen nur etwas Geld fehlt und die irgendwie Pech hatten in ihrem Leben.(...) Die Wirklichkeit war allerdings meist viel komplizierter."
    Fallbeispiele aus dem Alltag eines Gutachters
    Unter den Fällen, die Egg beschreibt, sind die Wormser Prozesse Mitte der 90er Jahre, in denen monatelang Eltern in Untersuchungshaft, Kinder zum Teil im Heim untergebracht waren. Der Grund: Gutachten vermeintlich wohlmeinender Kinderschützerinnen, die durch suggestive Befragungsmethoden nach allem, was man heute weiß, falsche Erinnerungen über angeblichen bestialischen Kindesmissbrauch hervorgerufen hatten. Es waren solche Fälle, nach denen der Bundesgerichtshof 1999 verbindliche Maßstäbe zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Aussagen aufstellte, wie sie außerhalb des Strafrechts teilweise bis heute fehlen. Seitdem haben Sachverständige von der Hypothese auszugehen, dass die Aussage unwahr ist, bis sie dies anhand von Gegenthesen widerlegen können. Die Bundesrichter haben dabei eine regelrechte Checkliste der Aussagepsychologie erstellt.
    Aber auch bei der Prognose, ob ein Täter wieder gefährlich werden kann, gibt es naheliegende Fehler. Unter den sehr ausführlich geschilderten Fällen ist der eines jungen Mannes, der erst wegen eines Gewaltdelikts, nach Entlassung wegen Vergewaltigung zu Jugendstrafen verurteilt wird – und der dann nach kurzer Zeit einen Sexualmord begeht. Und das, obwohl man sich in der Jugendstrafanstalt um den Delinquenten bemühte und obwohl er sich musterhaft einfügte. Für Egg ist der Fall klar: Schon die erste Gewalttat war falsch beurteilt worden.
    "Franz H. war bei seiner ersten Tat bereit, einen Menschen schwer zu verletzen oder gar zu töten, nur um mit dessen Geld einen Bordellbesuch zu finanzieren. Schon hier hätte man erkennen können, dass dies kein gewöhnlicher Raub war."
    Weil aber das sexuelle Motiv unerkannt blieb, gab es nicht einmal den Versuch einer Therapie – und die falsche Prognose. Dabei gibt Rudolf Egg nicht vor, psychologische Gutachten könnten hundertprozentig vorhersagen, ob ein Mensch wieder Straftaten begehen wird, weil Menschen unter neuen Bedingungen anders reagieren könnten. Und natürlich auch, weil Gutachten falsch sein könnten, zu optimistisch oder zu vorsichtig, was sich vermeiden lasse, "wenn diejenigen, die dazu beauftragt sind, sich vergewissern, dass sie das nach den Regeln ihres Faches machen, und dass sie sich möglichst versuchen unabhängig zu machen."
    Die Tendenz allerdings ist für ihn klar:
    "Wenn es da Zweifel gibt, ob eine Gefährlichkeit hoch ist oder nicht, dann gilt für den Gutachter übrigens nicht, was im Strafprozess bei der Tatfeststellung gilt, der Zweifelsgrundsatz zugunsten des Beschuldigten, sondern da würde, wenn man überhaupt von einem Zweifelsgrundsatz spricht, im Zweifel zugunsten der Sicherheit der Allgemeinheit votiert werden müssen."
    Unheilige Allianz zwischen Gutachter und Gericht
    Egg benennt Fehler, wo er sie sieht. Mit Pauschalurteilen hält er sich zurück, und schont dabei die Zunft vielleicht sogar zu sehr. Denn bei aller Zurückhaltung hat der Autor zumindest ein konkretes Anliegen, das dann doch rechtspolitisch ist.
    "Gerichte sollten nicht Entscheidungen, die sie selber zu treffen haben, komplett an Sachverständige delegieren, so dass sie nur am Ende das abpinseln, was da geschrieben wurde. Und manchmal hat man den Eindruck, das geschieht leider. Aber umgekehrt sollten auch Sachverständige nicht den Versuch machen, übergriffig zu werden, indem sie den Gerichten nicht nur die Fragen beantworten, die ihnen gestellt werden, sondern indem sie auch quasi die rechtlichen Entscheidungen mit hineinpacken in ihre Expertise und eben nicht mehr bei dem bleiben, was man als Psychologe oder Psychiater wirklich verantworten kann."
    Solche Fehler von Gutachtern belegt Egg in aller kollegialen Vorsicht mit Beispielen. Das wahrscheinlich mindestens so große Problem auf Richterseite – es gibt keine Fortbildungspflicht und wenig Praxis in der Ausbildung – benennt er eher in der Theorie. Dass dem Autor die Mahnung Ernst ist, zeigt allerdings schon der Titel: Die heimlichen – oder auch, farblich abgesetzt: Die unheimlichen – Richter. Wie Gutachter die Strafjustiz beeinflussen. Es ist diese Mahnung, die das Buch auch für Fachleute interessant macht. Ansonsten wird es eher den interessierten Laien ansprechen. Für den hat Egg auch eine Checkliste für die Qualität von Gutachten angehängt. Wesentlicher Punkt dabei: Was ein Laie nicht versteht, ist nicht gelehrt, sondern schlecht – vielleicht schlecht geschrieben, vielleicht auch schlicht nicht richtig. Diesem Ruf nach einfacher Sprache passt sich das Buch an.
    Rudolf Egg: Die Unheimlichen Richter. Wie Gutachter die Strafjustiz beeinflussen
    C. Bertelsmann Verlag, München 2015
    288 Seiten, 17,99 Euro