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Pu, Sally Jones, Törtel, Rita & Co

Kinder lieben Tiere. Nicht alle, aber zumindest die mit Fell, zwei Ohren und zei Augen.

Von Siggi Seuß |
    Wie alles anfing.

    " Als ich mal spazieren ging,
    traf ich ein Hündchen
    und wir kamen ins Gespräch.
    "Wohin des Wegs an diesem schönen Tag?"
    (fragte ich im Vorübergehen).
    "Hinauf in die Hügel,
    will dort herumtollen und spielen."
    "Da geh ich mit, Hündchen." "

    Ein Auszug aus einem Gedicht von A.A. Milne, dem Schöpfer des unsterblichen Pu und der illustren Gesellschaft im 160-Morgen-Wald. Das war damals, als wir noch sehr, sehr jung waren und mit den Tieren ohne jeden Hintergedanken sprachen. Das war damals und ist doch aktuell wie eh und je.

    "Du gabst uns Christopher Robin und Pu
    Und einen Wald voller Bäche und Schatten
    Und die ganze Welt lächelte mit dir und du
    Träumtest Träume, die wir dann hatten."

    rezitiert Harry Rowohlt, der Winnie The Pooh-Übersetzer, die Sätze des britischen Autors David Benedictus, die er seinem Vorbild A.A. Milne gewidmet hat. Benedictus hat eine Fortsetzung der klassischen Geschichten von Pu dem Bären geschrieben. - Warum? Wahrscheinlich glaubt er daran, dass die Träume der jungen Leser heute so unterschiedlich von den Träumen der jungen Leser früherer Generationen nicht sind. Dass Mädchen und Jungen immer noch die wildesten Abenteuer im Wilden Wald erleben können und ihre Forschererfahrungen mit den wunderbaren Geschichten aus der Tierwelt (die eigentlich eine sehr menschliche Welt ist) verquicken.

    Um die klassischen Erzähler, wie A.A. Milne, Kenneth Grahame, Richard Adams im Westen oder mittel- und osteuropäische Autoren und Illustratoren wie Samuil Marschak ("Das Katzenhaus"), Vera Tschaplina ("Vierbeinige Freunde"), Zdenek Miler (der Erfinder des Maulwurfs) und Ondrej Sekora (der Erfinder des Ameisenferdl) - um die Tierbuchklassiker im weitesten Sinne also scharen sich inzwischen ungezählte Autoren und Illustratoren von Tiergeschichten. Würde man sämtliche tierischen Helden in Kinderbüchern auf einem Poster versammeln - eine hundert Meter lange Plakatwand würde nicht ausreichen, um alle Persönlichkeiten abzubilden. Manche Tiergeschichten verbreiten ihre moralische Botschaften sehr dezent und differenziert. Die meisten sind eingebettet in mehr oder weniger spannende Abenteuer. Manche belehren auch nach Art klassischer Fabeln. Aber, Hand aufs Herz, eigentlich leben wir lieber als Bären von sehr geringem Verstand in der Welt des 160-Morgen-Waldes, wo es nicht immer so fabelhaft zugeht, dass man sich gleich einen Reim draus machen kann.

    Viele, viele Jahre sind seit Christopher Robins Abschied aus der Welt des 160-Morgen-Waldes vergangen. Die Geschichten A.A. Milnes wurden ab Mitte der 1920er-Jahre veröffentlicht. Aber was sind schon achtzig Jahre, wenn uns Tiere aus Büchern ans Herz gewachsen sind? Im Einverständnis mit Milnes Erben und dem Verlag hat David Benedictus ein neues Buch von Pu dem Bären geschrieben. "Rückkehr in den Hundertsechzig-Morgen-Wald" heißt es, übersetzt hat es - wie schon die alten Geschichten - Harry Rowohlt, der inzwischen auch das Hörbuch zu Benedictus' Hommage an die unsterblichen Tiere gesprochen hat.

    " Pu und Ferkel, Christopher Robin und I-Ah wurden zuletzt im Wald gesehen. ... Kann das wirklich schon achtzig Jahre her sein? Aber Träume haben ihre eigene Logik und es ist, als wären die achtzig Jahre an einem einzigen Tag vergangen. "

    Sie sind an einem Tag vergangen. Um es vorwegzunehmen: Der Versuch, Pu und seine Welt wiederzubeleben, ist gelungen. David Benedictus, Mark Burgess, der im Stil der Originalillustrationen von E.H. Shepard Pus Welt lebendig werden lässt und Harry Rowohlt, der Übersetzer mit der ganz speziellen Note - die drei sprechen die Sprache A.A. Milnes, mit allen Zwischen- und Untertönen und Anspielungen, die wohl erst Erwachsene verstehen. Sie sprechen die Sprache und sie versetzen sich mit großer Empathie in die Seele der Geschöpfe, die - wie in den meisten Büchern, in denen Tiere die Hauptrolle spielen -, ja eigentlich Menschen mit all ihren Eigenarten charaktisieren. Das heißt aber nicht, dass Kinder die Tiere des 160-Morgen-Waldes nicht mögen würden. Sie sehen sie eben nur etwas mehr als Spielkameraden und etwas weniger philosophisch. Und so sitzen wir, jung und alt, also auf der bemoosten Stelle mitten im Wald, wo Känga ihr bestes leinenes Tuch ausgebreitet hat, und die Freunde für die Christopher-Robin-Willkommensparty die leckersten Leckereien präsentieren.

    " spITzIELLE EINLADuNG
    wILLKoMMEN DAHEIM
    cHRIsTopHER RoBIN
    uND wILLKoMMEN AuF DER
    wILLKOMMENspARTy
    TAG: HEuTE

    "Esss heißßßt dreimal ‚Willkommen'" erläuterte Oile, "weil wir so entzzzückt sind, ihn wieder bei unsss zzzu haben." "

    Christopher Robin erscheint, mit einiger Verspätung:

    " und da war er, Christopher Robin, genau so, wie er immer gewesen war, nur dass er auf einem strahlend blauen Fahrrad fuhr. "

    Naja, um ehrlich zu sein: Im Vergleich zu Shepards Christopher Robin, scheint der Junge von Illustrator Burgess inzwischen in der Frühpubertät angekommen. Aber vielleicht hängt der Eindruck der Tiere vom "Immer so gewesen" auch damit zusammen, dass sie selbst in den Jahren - vor allem Pu - ein paar Gramm zugelegt haben und sich nach den selig-leichten Zeiten der Kindheit sehnen.

    Neu in der Waldgesellschaft ist übrigens Lotti, die Otterfrau, ein bisschen eitel und naseweis, aber sonst ein prima Kumpel. Sie könnte der Otterfamilie aus "Der Wind in den Weiden" entstammen. Und das Allerschönste an dieser Rückkehr in den 160-Morgen-Wald ist, dass das Verhalten und die Gedanken der Tiere, ihre Fantasien, Ideen, Ängste, Macken so unprätentiös, so unaufgeregt, so liebenswert daherkommen wie bei Milne. Große Helden sind sie wahrlich nicht, aber kleine Helden des Alltags allemal.

    Ein kleiner Held ist auch ein Tier, das von den Abenteuern von Pu & Co wahrscheinlich nie etwas gehört hat: Törtel, die Schildkröte aus dem McGrün - Hauptfigur der gleichnamigen Tiergeschichte von Wieland Freund, die uns mitten in das Leben eines fiktiven aber gleichwohl sehr real anmutenden Berliner Vororts namens Müggeldorf führt. Kerstin Meyer hat die Geschichte mit witzigen und frechen Bildern illustriert. Freund setzt die Tiere also in eine ganz normal vergängliche Zeit und in einen klar fassbaren Raum. Insofern haben seine Figuren - abgesehen vom Versuch, ein Refugium zu bewahren - nichts gemein mit der zeitlosen Welt, in der die Geschöpfe von A.A. Milne leben. Törtel & Co sind vergängliche Wesen, Pu & Co sind unsterblich und können an jedem Ort der Fantasie eines Menschen leben.

    Es war Mitternacht in Müggeldorf. Ein leiser Sommerwind strich durch die blauen Straßen. Er stupste gegen die Gartentore und streichelte die glatten Blätter der Rhododendren in den Vorgärten. Er kletterte in die Obstbäume hinter den Lauben und schlich sich in die alten Schuppen. Dann machte er sich zum Müggelseeufer auf, raschelte dort in den Binsen oder fuhr wie eine flache Hand über den gelben Sand im stillen Strandbad.

    Jedenfalls geht es in Müggeldorf weit chaotischer zu als im 160-Morgen-Wald. Dafür sorgen ein paar Vorstadtneurotiker, eine Diebesbande, die nachts Siedlungshäuser ausraubt und eine Menge wilder Tiere - Pendler zwischen wildem Wald und Vorstadtzivilisation, könnte man sagen. Unter vielen anderen: eine Füchsin, ein Dachs, ein Schwan, ein Marder, die Waschbärenbrüder Zlatko, Memet und Miroslaw und natürlich Grrmpf, der Keiler, der ungekürte Obermacker der lokalen Tierszene, der einen Rachefeldzug gegen einen wildschweinallergischen Rentner plant. Und mittenhinein in diese illustre Gesellschaft fällt eine Schildkröte, genauer: ein Schildkröterich, von sehr geringem Verstand, aber mit einem großen Herzen: Törtel aus der örtlichen Filiale des Tier- und Pflanzengroßmarkts McGrün, der auf gar nicht so wundersame Weise hart auf der Müggelseestraße landet und peu a peu Teil der Müggeldorfer Fauna wird, zum Beispiel bei einer nächtlichen Krisenkonferenz am Ufer des Sees.

    Und so plötzlich, wie es still geworden war, wurde es laut. Ein regelrechter Tumult brach los. Alle redeten durcheinander. Michelle quakte, die Krähen krächzten und das Tschäk-tschäk-tschäk der Elster überschlug sich fast. Die Mäusefamilie überbot sich mit immer schrilleren Tönen. Eine Motte stürzte vor Aufregung ab. Der Reiher drohte in Ohnmacht zu fallen. Und Kevin, der Automarder, war in einem wilden Hin und Her gefangen. Er sprang von links nach rechts und von rechts nach links und rief immer wieder: "Unglaublich! Unglaublich!"

    Herrlich, wie Wieland Freund diese nächtliche Gegenwelt entstehen lässt. Natürlich ist die nicht so zeitlos haltbar wie die Welt des 160-Morgen-Waldes. Dazu sind die Lebewesen viel zu gegenwärtig und ihre Neurosen und Aggressionen viel zu aktuell, wie etwa die Wut der Schrebergärtner, die Transparente mit der Parole "Müggeldorf den Müggeldorfern! Wildschweine raus!" an Verkehrsschilder hängen. Aber ansonsten ist die Geschichte so lebendig und so spannend, dass man sich am liebsten der nächtlichen Tierbande anschließen und versuchen wollte, den Nesthockern von Haustieren ein bisschen Feuer untern Hintern zu legen, um ihnen zu zeigen, was Unabhängigkeit bedeutet. So wie es eine junge Dame - ihres Zeichens: Schaf - in einer anderen sehr pfiffigen Tiergeschichte tut.


    Das kleine Schaf Rita lebt mit seinen Eltern und vielen anderen Schafen auf einem Deich gleich am Meer. Mit den anderen Schafen versteht sich Rita nicht allzu gut.

    Was denkt ihr, wer war der größte Pirat aller Zeiten?,

    fragt sie zum Beispiel

    Klaus Störtebeker oder vielleicht doch Sir Francis Drake?

    Die anderen Schafe schauen, wie Schafe immer schauen. Die meisten grasen gleichmütig weiter. Zwei machen "Määh!", eins hebt den Kopf ein wenig, und eins sagt:

    Bestimmt derjenige, der mehr Wolle hat.

    Rita seufzt.


    Was bleibt ihr auch anderes übrig, bei der immerwährenden Ignoranz der mampfenden Mehrheit? "Rita das Raubschaf" heißt die fabelhafte Geschichte von Martin Klein, zu der Ute Krause herzallerliebste Schafe und anderes Getier karikiert hat. Die Erzählung der ungewöhnlichen Abenteuer eines Tieres, das aus der Reihe tanzt, bedient sich der Elemente der Fabel und vermittelt auch eindeutige Botschaften (im Sinne von "Geh deinen Weg und unterwerfe dich keinem Gruppenzwang!"). Aber diese Botschaften werden in eine spannende und überaus witzige Handlung eingewoben. Das nimmt ihnen jede Moralinsäure. - Eine weitere Botschaft betrifft Zivilcourage und Neugierde auf die Dinge, die hinterm Horizont lauern: Man muss mit seinem Mut nicht alleinbleiben. Deshalb wird Rita alsbald auch dem leicht depressiv gestimmten Meerschwein Ruth begegnen. Besitzer ist der kleine Johann. Ruth hat - natürlich - das Käfigleben im allgemeinen und das Betatschtwerden im Besonderen schon lange satt. Und eines Tages fängt sie sogar wahrhaftig an zu knurren. In aller schulischen Öffentlichkeit. - Als Ruth dann noch zu röhren beginnt, gibt es kein Halten mehr. Sie nützt die Gunst eines Augenblicks, entflieht dem häuslichen Stress Richtung Deich - und findet - wie sollte es anders sein? - Rita. Der Beginn einer wunderbaren und aufregenden Freundschaft. Rita und Ruth entschließen sich, Freibeuter zu werden. Erst übungsweise, dann im richtigen Leben. - Dass das Ganze nun zu einer tierischen Persiflage auf den "Fluch der Karibik" wird, ist abzusehen.

    Unsterblich wie Pu oder Ferkel oder Oile oder Känga werden auch Rita und Ruth nicht. Dazu ist ihr Leben viel zu hektisch. Aber die Lektüre entfacht allemal die alte Lust an einem unabhängigen, couragierten und abenteuerlichen Leben abseits der mampfenden Mehrheit.

    Es geht auch anders. Tiergeschichten können getragener, ernster, belehrender sein, im engeren Sinn der Fabel. So wandelt ein Tierbuch sehr diszipliniert auf der Spuren der Fabeln Äsops und La Fontaines: Antonie Schneider schlägt einen kleinen Äsopschen Bilderbogen auf: "Kamel bleibt Kamel". 19 Äsopsche Fabeln werden jeweils auf einer Doppelseite vorgestellt: Auf der einen Seite die Fabel, auf der anderen Seite die kongeniale, genauso diszipliniert wie der Text wirkende Illustration von Aljoscha Blau.

    Ein Eisvogel, der die Einsamkeit liebte, lebte auf einem Felsen am Meer. Als die Brutzeit kam, baute er sich sein Nest auf einen Felsen mitten im Meer, um vor jeder Gefahr sicher zu sein. Einmal musste er für kurze Zeit seine Jungen verlassen, um Futter zu suchen. Da kam ein heftiger Sturm auf und die Sturzflut riss das Nest mit sich fort. "Ach wäre ich nur zum Brüten an Land geblieben", klagte der Eisvogel bei seiner Rückkehr, "dann wären meine Jungen noch am Leben."

    Und dann folgt - hervorgehoben - die Moral der Geschichte:

    Leben ist immer lebensgefährlich. Im Leben gibt es keinen sicheren Ort, den ein plötzlicher Sturm nicht erreichte.

    Diese spröde Form der Belehrung ist gewiss nicht Sache vieler junger Leser. Sie stellt so etwas dar wie eine unverfälschte klassische Botschaft, ohne jede Verschnörkelung. Als lebensweiser Gedankengang könnte eine solch pure Fabel jedoch am Anfang eines spannenden Gesprächs von Kindern und Erwachsenen über zeitlose und zeitgemäße Tugenden stehen.

    "Was ist eine Fabel?", fragte der Fuchs. "Zieh dir mit Worten die Eselshaut an und erklär so die Welt", sprach die Maus.

    Beim zweiten Fabelbuch, das wir hier vorstellen, wird aus der Eselshaut die Haut einer Schlange und die einer Eidechse - in "Schlange und Eidechs", 15 fabelhafte Erzählungen der Neuseeländerin Joy Cowley über die ungewöhnliche Freundschaft zweier Geschöpfe. In den Fabeln Äsops und La Fontaines tauchen zwar gelegentlich Schlangen auf, die Eidechse dürfte in Cowleys Buch allerdings ihr Debüt als Fabeltier feiern. Gerade aus den höchst unterschiedlichen Eigenarten der beiden Tiere beziehen die (zusammenhängenden) Geschichtchen ihre Spannung. Und die farbigen Bilder und Vignetten von Gavin Bishop illustrieren anschaulich und mit leichtem Humor das Tierleben in der Wüste. - Schlange hat eben ein perfektes Plätzchen für ein Sonnenbad gefunden. Sie reckt und streckt sich also mit einem zufriedenen Seufzer und legt sich zur Ruhe nieder. Klar, dass ihr in einer Fabel ein anderes Lebewesen das perfekte Plätzchen streitig macht: Eidechs kreuzt den Weg und stolpert fast über Schlange.

    Dein Schwanz liegt quer über dem Weg.

    Nein, das tut er nicht.

    Ja, das tut er doch! Er liegt quer über dem Weg, von der einen Seite bis zur anderen.

    Nein, das tut er nicht.

    Tut er doch! Tut er doch! Ich sage dir, dein Schwanz blockiert den ganzen Weg.

    Und ich sage dir, das tut er nicht. Das ist nämlich mein Körper und nicht mein Schwanz! Der Schwanz ist nur die kleine Spitze am Ende.

    Welcher Körper? Du hast doch gar keinen Körper. Dein Schwanz beginnt an deinem Kopf.

    Undsoweiterundsofort - ein Disput also aus dem richtigen Leben. Das ist das Schöne an diesem Buch: Die Moral kommt nicht trocken und gelehrsam daher, sie ist jeweils eingebettet in eine lebendige, witzige und dialogreiche Episode, die manchmal glücklich, manchmal traurig und manchmal offen endet. - Es gibt fröhliche und es gibt traurige Erfahrungen und Erkenntnisse in dieser vergnüglichen und hintersinnigen Reise durch die Welt der Fabel. Wir wandeln nicht puristisch auf den Spuren Äsops und La Fontaines, sind aber auch nicht frisch, fröhlich, frei unterwegs in der Abenteuerwelt eines 160-Morgen-Waldes - oder gar wie die Heldin unserer letzten hier vorgestellten Tiergeschichte: auf einer Reise um die Welt.

    Der Anfang dieser Geschichte liegt ungefähr hundert Jahre zurück. In einer tropischen Unwetternacht wurde tief im afrikanischen Regenwald ein Gorillajunges geboren. In dieser Nacht leuchteten weder Mond noch Sterne. Deshalb prophezeite die Sippenälteste dem Neugeborenen für die Zukunft mancherlei Unheil.

    Es ist die meines Erachtens schönste und hintergründigste Tiergeschichte des vergangenen Jahres. Aber eigentlich ist "Sally Jones - Eine Weltreise in Bildern" des Schweden Jakob Wegelius ja mehr: die Lebensgeschichte eines Gorillaweibchen, das in jungen Jahren der vertrauten Umgebung entrissen wird und eine mehr als abenteuerliche Lebensreise antritt. Sie führt vom Kongo über Istanbul nach Serbien. Von dort über Griechenland zurück nach Istanbul. Dann auf einem Frachtschiff nach Südostasien, auf Borneo, nach Singapur, hin und her über die Weltmeere, dann nach San Francisco, nach New York, wieder längs und quer über die Weltmeere von Bahia bis zur Baffin Bay, ja am Ende sogar noch einmal den Kongofluss aufwärts.

    Wie kann man soviele Abenteuer auf 108 illustrierten Seiten unterbringen, auf denen die farbigen, altmodischen Bilder - Porträts unterschiedlichster Charaktere, bunte Landkarten, Augenblicksszenen der Ereignisse, poetische Landschaftstimmungen, ungewöhnliche Perspektiven -, auf denen also die Bilder mächtiger zu wirken scheinen als der Text? Das liegt an der Erzähl- und Illustrationskunst von Jakob Wegelius. Die Worte geben nüchtern knapp - fast im Nachrichtenstil - wichtige Ereignisse im Leben der tierischen Heldin wieder. Nehmen wir etwa die Szene, in der ein türkischer Kaufmann den Affen an Bord eines Schiffes nimmt. Man sieht auf dem Bild eine illustrierte Landkarte mit Wäldern, Wüsten und sogar einem Kamel und kann die Reiseroute des Schiffes rund um Nordafrika verfolgen. Dazu liest man:

    Um sich die teuren Zollgebühren zu ersparen, beschloss Ali Kazdim, das Gorillamädchen auf einem Passagidampfer nach Europa zu schmuggeln. Er brachte sie, wie ein Baby gewickelt, in einem Kinderwagen an Bord. Ihrem falschen Pass zufolge war sie die Tochter eines spurlos im Dschungel verschwundenen irischen Missionarsehepaars. Und ihr Name war Sally Jones.

    Der knappe Text und die detailreichen Bilder mit vielen komischen Elementen sind eine Hommage an die realistische Illustrationskunst des beginnenden 20. Jahrhunderts und an die große Zeit der Entdecker und Abenteurer. Beides öffnet dem Leser Seite für Seite eine imaginär-realistische Welt. Wir sind gezwungen, unsere Fantasien in Bewegung zu setzen, um die Geschichte hinter den Bildern lebendig werden zu lassen. Und das geht wunderbar. So wunderbar, dass wir im Lauf der Erzählung gar nicht mehr daran zweifeln, dass Sally lesen lernt und sprechen und Lastwagen fahren und tanzen und Pokerspielen. Sie arbeitet als Heizer auf Frachtschiffen, freundet sich zuerst mit einem traurigen Orang-Utan an, schwelgt mit ihm in Sentimentalitäten, lernt dann einen finnischen Schiffsmaschinisten kennen - eine Freundschaft fürs Leben - und schippert mit ihm über die Weltmeere. Zeitweise führen beide sogar eine kleine Reparaturwerkstatt in San Francisco.

    Sie reparierten Schiffsmotoren und Autos. Ihre Geschäfte liefen gut. Viele suchten die Werkstatt einfach auf, um einen Gorilla zu sehen, der schweißen konnte. Sonntags zog der Chief seinen guten Anzug an und ging mit Sally Jones ins Café.

    Und die Moral von der Geschichte? Die gibt es - wie in den Tiergeschichten, die wir wirklich lieben - nur zwischen den Zeilen und hinter den Bildern: Ein Tier - ein Mensch - geht verloren, ist immer wieder fremden Mächten und Interessen ausgesetzt und natürlich auch den eigenen Gefühlen. Absichten, Zufälle, Naturgewalten prägen den Lebensweg und werfen das Individuum ständig aus der Bahn. Aber da ist auch ein immer wieder aufkeimender Wille, sich den Allgewalten entgegenzustellen und überleben zu lernen. - Das ist überall zu spüren während dieser Weltreise, oder besser: Lebensreise in Bildern.

    Und hier schließt sich - mit einem Augenzwinkern - der Kreis und wir kehren - mit einem kleinen Umweg über Törtels Müggeldorf und Ritas norddeutsche Deichlandschaft zurück zu unseren tierischen Freunden in den 160-Morgen-Wald, die ihre geborgene kleine Welt in den vergangenen 80 Jahren nicht verlassen mussten. Die Tiere bleiben uns dort ewiglich erhalten - man stelle sich Pu auf Weltreise vor: Verloren! Verloren! -, Christopher Robin aber muss eines Tages die Geborgenheit verlassen. Das ist die Bestimmung, der wir Menschen unterliegen, wenn wir eine Geschichte gelesen haben und das Buch zuklappen. Pu hat dazu ein zu Herzen gehendes Gesumm verfasst. Dem ist nichts hinzufügen.

    " Christopher Robin? Nicht mehr vor Ort!
    Er wollte ja fort, ja, er wollte ja fort.
    Wann umarmt er uns wieder und packt uns am Nacken?
    Hatte er Zeit, seine Sachen zu packen?

    Die Musik ließ er hier, aber er brauste
    Mit dem Radel davon; das beste und blauste,
    Das je man geseh, war's ... Und weg ist er .. Halt!
    Bestimmt kommt er wieder zurück in den Wald.

    Eines Tages vielleicht, wenn die Sonne wärmt,
    Hören wir Christopher Robin, der lärmt:
    "Ferkel und I-Ah, Kaninchen und Pu,
    Hier bin ich, ihr Bande! Wo seid ihr? Huhu!" "


    Literaturhinweise:

    - David Benedictus: Pu der Bär. Rückkehr in den Hundertsechzig-Morgen-Wald. Übersetzt von Harry Rowohlt, Dressler, Hamburg 2009, 208 Seiten, 14,90 Euro (ab 6)

    - David Benedictus: Pu der Bäar. Rückkehr in den Hundertsechzig-Morgen-Wald. Vorgelesen von Harry Rowohlt. Kein & Aber Records, Zürich 2009, 3 CDs, 230 min, 19,90 Euro. ISBN 978-3-0369-1338-4

    - Wieland Freund: Törtel, die Schildkröte aus dem McGrün. Mit Bildern von Kerstin Meyer. Beltz&Gelberg, Weinheim 2009, 184 Seiten, 12,95 Euro (ab 8)

    - Martin Klein: Rita das Raubschaf. Mit Bildern von Ute Krause. Tulipan, Berlin 2009, 86 Seiten, 12,90 Euro (ab 6)

    - Antonie Schneider: Kamel bleibt Kamel. Äsops Bilderbogen. Mit Bildern von Aljoscha Blau. Nilpferd in Residenz, Residenz Verlag, St. Pölten 2009, 46 Seiten, 14,90 Euro (ab 6)

    - Joy Cowley: Schlange und Eidechs. Mit Bildern von Gavin Bishop. Aus dem Englischen von Nicola T. Stuart. Jacoby & Stuart, Berlin 2009, 94 Seiten, 12,95 Euro (ab 8)

    - Jakob Wegelius: Sally Jones - Eine Weltreise in Bildern. Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs. Gerstenberg, Hildesheim 2009, 108 Seiten, 16,90 Euro (ab 8)

    Als ungewöhnliche Einführung in die Tierwelt ist folgendes Sachbuch zu empfehlen:

    - Bibi Dumon Tak: Kuckuck, Krake, Kakerlake. Das etwas andere tierbuch. Mit Zeichnungen von Fleur van der Weel. Aus dem Niederländischen von Meike Blatnik. Bloomsbury, Berlin 2009, 90 Seiten, 12,90 Euro (ab 6)