Donnerstag, 02. Mai 2024

Archiv


Pubertäre Suchbewegung einer aufbegehrenden Bohème

Der 1923 in Berlin geborene Peter Gay hat sich in zahlreichen Veröffentlichungen als ein Kenner der Kulturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts erwiesen. In zuletzt fünf Studien widmete sich der Historiker und Psychoanalytiker der bürgerlichen Erfahrungswelt und überraschte mit der These, dass man diese zu Unrecht jener Spießigkeit und Engstirnigkeit verdächtigte, die eine ausgewählte Bohème ihr immer wieder zusprach.

Von Werner Köhne | 26.01.2009
    Die Rede von der Moderne gerät inzwischen so babylonisch, dass es schon einiger Unverfrorenheit bedarf, einem Buch den Titel "Die Moderne" und dazu noch den Untertitel "Eine Geschichte des Aufbruchs" zu geben. Der Amerikaner Peter Gay kann allerdings für sich in Anspruch nehmen, trotz all des wilden Denkens in den letzten dreißig Jahren stoisch an Überzeugungen zum Thema Moderne festgehalten zu haben. So reagiert er - dem Monde gleich - gelassen, will sagen, gar nicht, auf all das Gebelle der erhitzten Diskutanten, die je nach Befindlichkeit die Moderne als Selbstermächtigungsunternehmen zu entlarven suchen oder in ihr ein exstatisches Phänomen vermuten, worin sich in zeitenthobener Verbundenheit Aristoteles, Descartes und Durs Grünbein austauschen können.

    Peter Gay geht ganz konkret vor und dazu klassisch. Er fasst die Moderne sozial- und kulturgeschichtlich als ein Phänomen, das erstmals im 19. Jahrhundert in der bürgerlichen Gesellschaft auftrat, seinen Höhepunkt auf der Wende zum 20. Jahrhundert entfaltete und heute mit dem Verschwinden des Bürgertums in Manierismen und Moden zu verenden droht. Alles hat seine Zeit; auch die Moderne. Die These ist nicht neu. Gay fasst außerdem die klassische Moderne unter bestimmte Kriterien und wendet diese auf Literatur, Kunst, Musik und Film an.

    "Ein Merkmal, das alle Modernen ganz unbestreitbar gemeinsam hatten, war die Überzeugung, wonach das bislang noch niemals Versuchte dem Üblichen, das Seltene dem Gewöhnlichen, das Experimentelle dem Routinierten eindeutig überlegen sei. Trotz aller greifbaren Unterschiede hatten die Vertreter der Moderne: erstens den Reiz der Häresie, der sie in ihrer Auseinandersetzung mit den überkommenen Empfindlichkeiten antrieb, und zweitens einen Hang zu bedingungsloser Selbsterforschung."
    Bei Maßgabe dieser Kriterien nimmt es nicht wunder, dass Peter Gay den Zeitrahmen für die Moderne drastisch einschränkt und zudem einen überragenden Gewährsmann nennt, dem sich alle Modernen, heißen sie nun Rimbaud, Picasso, Virginia Woolf oder Orson Welles, verpflichtet fühlen.

    "Über all diesen Klassikern schwebt das schwermütige bärtige Gesicht Siegmund Freuds. Jedes trägt seine eigenen Beglaubigungszeichen. Und wir sagen: das ist modern."
    Der Rahmen wäre also abgesteckt. Er zeigt sich verführerisch. Die Frage ist: Schafft man es so, die in ihn eingerückten Phänomene zu erklären? Zwischen 1890 und 1960 siedelt Gay die Moderne an. Bei genauerem Hinsehen schränkt er sie gar auf etwas mehr als zwei Jahrzehnte ein, zwischen 1890 und 1914. Damals entstanden die Werke von August Strindberg, skandalisierte Edward Munch mit den verschmierten Bildern seiner todkranken Schwester die Berliner Gesellschaft, entwickelte Strawinsky seine Dissonanzen und trat das Medium Film neu auf die Bühne der Zeit, mit Montagen fragmentierter Körpern, die erste Besucher des Films voller Entsetzen aus dem Saal fliehen ließen.

    Natürlich entstand damals auch die Psychoanalyse mit ihrer großen Erzählung von den Gründen und Abgründen des bürgerlichen Gefühlshaushalts. Die Moderne in Gestalt der avantgardistischen Künstler lieferte - so müssen wir Gay lesen - zu dieser Erzählung den Vatermord, die heftigen pubertären Suchbewegungen einer aufbegehrenden Bohème, die Reisen ins Innere des Taifuns und nicht zuletzt den Stil. An dieser Betrachtung mag vieles einleuchten, aber lassen sich darunter Arnold Schönberg, James Joyce und Franz Kafka fassen und weit über die 1960er Jahre hinaus ein Gerhard Richter oder Stanley Kubrick?

    Gay wählt in seinem 650 Seiten umfassenden Buch einen Darstellungsstil, der recht kurzweilig ist. Er stellt einzelne Künstler und ihr Werk vor, ohne sie allzu sehr an seine Hauptthese zu binden. So entsteht ein mäanderndes narratives Geflecht, das einen gern weiterlesen lässt. Am Ende dieses Buches weiß man sehr viel mehr über die Geschichte der Künste - aber man sollte vielleicht besser die bemühte Definition des Anfangs vergessen haben.

    An zwei Stellen liefert der Autor selbst eine Ahnung davon, dass Häresie und Selbsterforschung, unter dem Medusenhaupt Freuds vorgenommen, nicht ausreichen, um die Erfahrungen der Zeit und die Antworten der Kunst darauf in einen Zusammenhang zu bringen. Auf die wahrlich innovativen Schreckens-Erfahrungen des Ersten Weltkrieges fanden Kunst und Literatur die Antwort DADA und Surrealismus.

    Beide Avantgardebewegungen lassen sich zweifellos als Bürgerschreckaktionen verstehen, aber modern in dem Sinne, dass sie auf der Höhe der Zeiterfahrung sind, waren sie nicht. Heißt das nun, dass die Moderne als Kunstrichtung vor der Wirklichkeit versagte? Peter Gay verfolgt diese Frage nicht weiter. Sie hätte ihn womöglich andere Kriterien finden lassen.

    Auf der anderen Seite betrachtet er die künstlerischen Bewegungen seit den neunzehnhundertsechziger Jahren als bloße Ausläufer der Moderne - mit zwei Ausnahmen, die er würdigt: Günter Grass und Gabriel Marcia Marquez. Da ist ihm wohl etwas gründlich aus dem Ruder gelaufen! Vielleicht rächt sich hier, dass er allein auf sein Kraftfeld Bürger und Bürgerschreck und die Selbstsuche setzt. Kafka wird er so kaum fassen können und auch nicht Robbe Grillet.

    Der Autor steht zu Recht in dem Ruf, in der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur den hässlichen Gegenspieler der antibürgerlichen Kunst zu sehen, sondern positiv gewendet den Ermöglichungsgrund für großartige moderne Werke. Das ist sicher wahr. Aber es ging in zahlreichen Werken der künstlerischen Moderne um weit mehr als das.

    Welche Rollen spielten die Katastrophen des Zivilisationsbruchs 1914 und - Auschwitz betreffend - 1944? - Hieß Moderne nicht immer auch eine Sisyphusarbeit an einer sie überfordernden Zeit? - Und wie wirkte sich die Mediatisierung unseres Lebens seit der Erfindung der Fotographie und des Telefons bis hin zur Nutzung der elektronischen Medien auf Leben und gestaltete Erfahrung in der Kunst aus? Da bedürfte die Analyse eines anderen Diagramms. Peter Gay hat ein anregendes Buch vorgelegt, die Basis für ein Verständnis des Phänomens Moderne sollte indes breiter angelegt werden.
    Peter Gay: "Die Moderne, Eine Geschichte des Aufbruchs"
    S. Fischer-Verlag, 654 Seiten, 24,90 Euro