Wenn vom Judentum die Rede ist, dann oft in Zusammenhang mit Antisemitismus und dem Holocaust. Das Judentum als Religion wird dabei oft ausgeklammert. Aber was macht das jüdische Selbstverständnis aus? Ein guter Tag, um darüber nachzudenken, ist in diesem Jahr der 22. Juli. An ihm beginnt im jüdischen Kalender der Monat Av, und damit beginnt auch traditionell eine besondere Zeit der jüdischen Selbstfindung und der Reflexion über Vergangenheit und Gegenwart. Aus diesem Anlass spricht der jüdische Publizist Günther Bernd Ginzel über die zugleich einfache und schwierige Frage der Religion und über Hoffnung im Judentum.
Andreas Main: Herr Ginzel, wenn ich mir jüdische Publikationen anschaue, egal aus welchem Lager: Auch da geht es oft überwiegend um Politik, um Israel, um Diaspora, Judenhass und kaum um Religion. Erübrigt sich eine Religion, die Religion so kleinschreiben?
Günther Bernd Ginzel: Also das mit der Religion ist in der Tat eine ebenso einfache wie schwierige Frage. Das berührt natürlich zutiefst die Identität. Aber was ist eine jüdische Identität? Ich meine, je nachdem, wen sie fragen, sprudelt der sofort runter, weiß ganz genau, so ist das, und fertig.
Aber wenn man aufs Ganze guckt, und ich habe mir noch mal den größten Denker angesehen im modernen Judentum Jeschajahu Leibowitz. Der neigt eben weder zum Pathos noch zur Verklärung, und der stellt fest, genau nachdenkend über diese Frage, ich zitiere das mal:
Heute besteht das jüdische Volk - ich spreche vom Kollektiv - einfach nur aus dem Bewusstsein des Jude-Seins, aber nicht in der Realität des Jude-Seins.
Das heißt, was er damit meint, ist, dass für viele Juden das Jude-Sein in ihrem konkreten Leben keine Rolle spielt, weil sie sich von der Umgebung weder unterscheiden noch unterscheiden wollen. Aber gleichzeitig haben sie immer noch das Bewusstsein: Ich bin Jude. Ein Anachronismus. Er spricht eben von der Merkwürdigkeit des Bewusstseins, Jude zu sein.
Ich glaube, daran ist ganz viel. Ganz besonders im Gespräch mit Juden aus den russischsprachigen Ländern, wo im Grunde genommen bei vielen - nicht bei allen - am Anfang gar keine Substanz war. Was heißt eigentlich jüdisch? Aber es ist etwas, das vom Atheisten bis zum Ultraorthodoxen wichtig ist, nicht zu vergessen, dass er Jude ist. Oder - Sie haben das eben auch schon mal angedeutet: Die Umwelt wird sie in jedem Falle daran erinnern.
Dem Judentum zu entfliehen, ist fast nicht möglich. Es ist eine groteske Geschichte, und die größten Tragödien haben sich abgespielt zum Ende der Weimarer Republik, zu Beginn des Dritten Reiches, wo dann auf einmal auch die Taufe keine Rettung mehr war. Ich hatte mal die Schriften vom Verband nicht-arischer Christen gefunden, und da hätten sie heulen können. Das sind Menschen, die in der zweiten, dritten Generation christlich sind, aus Überzeugung, und die jetzt von ihrer eigenen Kirche plötzlich ausgegliedert worden sind. Sie seien ja von jüdischer Abstammung.
"Wieso gibt es uns?"
Main: Sie haben eben mit Leibowitz die Merkwürdigkeit des Jude-Seins angesprochen. Wie halten Sie diesen Spagat aus?
Ginzel: Ich glaube, das ist ein Spagat, der in jedem Einzelnen mehr oder weniger ausgeprägt vorhanden ist. Für mich gibt es eben viele Formen des Jüdisch-Seins, die sozusagen in dem Fall jetzt im mir vereint sind. Und das gilt jetzt für andere auch.
Es ist die Kontinuität der Geschichte. Es ist aber auch die Frage: Wieso gibt es uns? Das ist ja im Grunde genommen gar nicht zu erklären. Aber gleichzeitig gibt es uns eben auch in einer ganz spezifischen Form, die sehr viel zu tun hat mit dem Bildungsideal im Judentum, mit dem Lernen, mit dem Fragen. Das heißt, dies ist eine Religion, die Fragen zulässt, die Zweifel zulässt.
Mit anderen Worten wenn ich an der Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Liebe Gottes zweifle - wie nach Auschwitz das ja logischerweise viele getan haben und tun - dann muss ich nicht aus dem Judentum flüchten, sondern ich kann das als Jude innerhalb des Judentums tun. Und es ist eine Folge dessen - und ich glaube, das ist ganz wichtig für jüdische Identität:
Der liebe Gott hat uns ja nicht nur als Mann und Frau geschaffen, schon im Paradies. Er hat uns nicht nur die unsterbliche Seele eingepflanzt, sondern auch den Verstand. Und mit dem Verstand eben auch die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen oder eben nicht nachzudenken, etwas Neues erforschen, erkennen zu können, wie eben in der Paradiesgeschichte. Oder eben auch zu scheitern.
Mit anderen Worten: Diese Freiheit durchzieht die gesamte jüdische Theologie, auch die Bibel, indem Gott sich jetzt in der Geschichte offenbart und reagiert auf Situationen, die nur so ganz und gar aus dem Ruder gelaufen sind.
"Jude-Sein manifestiert sich im Hier und Heute"
Main: Freiheit, Verantwortung und Geschichte. Diese drei Stichwörter, wenn ich die mal aufgreife, das deutet ein wenig darauf hin, dass wir es zu tun haben mit einer sehr diesseitigen Religion. Ist das richtig gedeutet?
Ginzel: Jein. Jude-Sein manifestiert sich in der Tat im Hier und Heute, im Glauben, im Tun. Aber das hat Auswirkungen, wie es so schön heißt, auf die zukünftige Welt. Und es hat mehr noch Auswirkungen auf die Erlösung. Das heißt, der messianische Traum hängt nicht davon ab, dass irgendwann der liebe Gott nach Jahrtausenden sagt:
Das ist ja alles furchtbar. Das hört hier mit den Morden, mit den Völkermorden, mit den Epidemien, das hört ja alles nicht auf. Die ruinieren mir diese Welt noch ein zweites und drittes Mal. Jetzt ist Schluss. Ich mache die Erlösung, schicke denen irgendwas Messianisches und alles ist gut.
Das geschieht nicht. Die Frage ist, warum nicht. Das ist eine ganz schwierige Frage für viele Christen, wie ich festgestellt habe: Gott ist lieb, Gott ist gut, Gott ist die Erlösung. Die Erlösung hat schon angefangen. Das alles ist in mir.
Im Judentum denkt man nicht so viel darüber nach. Warum: Weil in uns und mit uns - das hört sich jetzt sehr pathetisch an - das Wort Gottes ist. Ich meine das jetzt gar nicht im orthodoxen Sinne: Das Jüdische wird bestimmt durch die Bundesschlüsse von Abraham anfangend. Gott offenbart sich - oder sagen wir mal so: Die Menschen, die diese Legenden vor zwei-, drei-, viertausend Jahren immer noch gehört haben, haben begriffen, das ist was Besonderes. Es ist die Offenbarung.
Und so entsteht eben eine Theologisierung der Geschichte. Und das kulminiert am Sinai. Das Entscheidende ist hier der Bundesschluss und die konkreten Bedingungen, wenn ich das mal so sagen darf, des Bundesschlusses. Und dementsprechend hat man gerade im orthodoxen Judentum immer die Orthopraxis ganz besonders hoch eingeschätzt.
"Die Thora ist in uns"
Main: Also das richtige Tun, im Gegensatz zur Orthodoxie, der richtigen Lehre.
Ginzel: Nein, das richtige Befolgen im Judentum der Regeln. Das richtige Tun ist sozusagen schon wieder die Definition der Ethik. Wie gehe ich damit um? Das heißt, das ist ja die Auseinandersetzung, die es seit 200 Jahren innerhalb des Judentums gibt, nämlich die Frage: Was ist denn jetzt wirklich das Wesentliche?
Und dann gibt es unterschiedliche Antworten. Ich habe nicht umsonst vorher den Verstand erwähnt, und die Bibel und die Propheten betont auch immer wieder:
Ihr wisst, was Ihr tun sollt, also tut es. Das Wort ist bei Euch.
Das heißt, die Thora ist in uns, mit uns. Und damit ist, wenn Sie so wollen, auch Gott mit uns. Die Thora wandert mit. Das ist eine alte Vorstellung im Judentum: Es kann passieren, was will, indem die Thora mit dabei ist, sind wir sozusagen in unserem geistig-religiösen Heimatland. Wir sind niemals in der Fremde, soweit wir die Thora haben.
Und ob sie die Thora jetzt als Geschichtsbuch nehmen oder tatsächlich als wortwörtliches Wort Gottes, ist im Grunde genommen dabei unerheblich. Das Faktum ist, das ist da, und das ist seit dreieinhalbtausend Jahren da. Und die Menschen haben über all diese Zeit darin gelernt, ausgelegt und uns die Möglichkeit gegeben, auf dieser Basis zu schauen, was ist um uns herum?
Es hat in der Geschichte der Diaspora, und die ist immerhin mindestens 3000 Jahre alt, eben immer die Umwelt gegeben. Und diese Umwelt war nicht immer feindlich, und die stand oftmals kulturell sehr viel höher als dieses kleine Völkchen. Und dementsprechend hat das Verankert-Sein in der Thora uns freigemacht. Oder sagen wir mal so: einen Teil freigemacht zu schauen, was läuft denn hier in dieser griechischen Diaspora? Was läuft hier in Mesopotamien, in Babylonien? Donnerwetter, das sind ja wunderbare Dinge.
Und auf diese Art und Weise gab es immer eine Auseinandersetzung zwischen dem: Was wollen wir bewahren? Was ist unabänderlich? Was ist der Kern des Jüdischen? Wort Gottes! Aber daneben gibt es auch noch andere Dinge, die wir begeistert aufgreifen können und sozusagen inkorporieren in unser Denken. Und die Thora selbst ist dafür ein Beispiel mit vielen wörtliche Übernahmen aus der umgebenden Bevölkerung, weil man gemerkt hat, das ist ja so wichtig. Irgendwann hat man gar nicht mehr gemerkt, dass das nicht urjüdisch ist.
"Das Überlebenselixier des Judentums"
Main: Für Sie ist die Thora Appell, Ermunterung, Ihrer Freiheit, Ihrer Verantwortung, der Thora gerecht zu werden. Andere deuten was ganz anderes daraus. Ist da auch schon angelegt, dass es eben diverse Strömungen im Judentum gibt und dass wir nicht von einer jüdischen Identität sprechen können?
Ginzel: Ja, die gibt es im Grunde genommen seit den Zeiten der Thora. Wir haben ja ganz unterschiedliche Auffassung. Wir haben eine Entwicklung. Das fünfte Buch Mose unterscheidet sich von den anderen. Das ist sehr viel sozialer, da spielt auf einmal Ethik eine Rolle. Dei den Propheten und so. Das heißt: Diese Fähigkeit zum Wandel, ohne das Wesentliche zu verraten. Das ist im Grunde genommen das Überlebenselixier des Judentums.
"Wir haben Fragen an Gott"
Main: Der Kölner Publizist Günther Bernd Ginzel im Deutschlandfunk in der Sendung "Tag für Tag - aus Religion und Gesellschaft". Herr Ginzel, wir sind auf der Suche nach einem jüdischen Selbstverständnis jenseits von Antisemitismus und Erinnerungskultur. Auch wenn es keinen jüdischen Papst gibt, und Sie auch nicht beanspruchen können oder wollen, für das Judentum zu sprechen. Aber aus ihrer Sicht: Was ist an jüdischer Hoffnung spezifisch jüdisch?
Ginzel: Ich glaube, es ist ein Widerspruch in sich. Was wir erlebt haben und bis in die Gegenwart erleben, ist auch eine Abfolge von unglaublichen Verfolgungen, von Leid, von Elend, von Verzweiflung. Die Kinder des Bundes bleiben dem Bund treu und fragen sich - und das ist übrigens ein Zitat des damaligen Oberrabbiners von Israel Lau, über den ich einen Film gedreht habe, der mir das erzählte, wie sie aus dem KZ kamen:
Wir haben Fragen an Gott, die bleiben offen. Aber die Fragen bleiben.
Und trotzdem haben wir die Hoffnung, dass es besser wird. Es gibt jüdisches Leben in Deutschland. Vor Jahrzehnten war das völlig undenkbar in dieser verbrannten Erde. Die Hoffnung ist ein Irreales und dennoch konkret handlung-heischendes Element im Judentum. Die Hoffnung ist das Einzige, um sich vor der Depression zu schützen, um überhaupt auch noch ein guter Jude sein zu können. Denn einmal hat Gott uns befreit aus der Sklaverei. Warum sollte er das nicht noch mal tun?
"Ein Stückchen dieses Kinderglaubens brauchen wir"
Main: Hoffnung auf Nichtverfolgung, Hoffnung auf Befreiung das ist das Eine. Aber es bleibt ja dennoch das Skandalon des Todes eines jeden Menschen. Wie hilft da das Judentum?
Ginzel: Das ist ein Kapitel, was sich entwickelt hat ganz am Anfang. Je mehr die Menschen über Gott und über Seele und dergleichen nachgedacht haben, wurde es ihnen ja wichtig: Das kann mit dem Tod ja nicht zu Ende sein. Also um das einfach abzukürzen: Das Judentum glaubt an ein Leben nach dem Tod. Es gibt jetzt die unterschiedlichen Vorstellungen, so, wie geschrieben steht: Bein zu Bein, Familie zu Familie. Ein Gedanke, der so etwas von Tröstlichkeit hat.
Als Kind, da mein Vater an den Folgen der Verfolgung gestorben ist als ich sechseinhalb Jahre alt war, war ich auf dem Friedhof zu Hause. Und der Gedanke jetzt gerade auch von den Leuten - Sie müssen sich das vorstellen: Die haben gemeinsam zum Teil Auschwitz überlebt, und jetzt stirbt einer von beiden. Manchmal wollte sich der Partner ins Grab stürzen. Das war ganz furchtbar.
Aber der Gedanke: Man sieht sich wieder. Und mir als Kind hat man das gesagt, und das sagt man, glaube ich, auch viel nicht-jüdischen Kindern: Der Papa, die Mama, guck mal, die ist da oben, der passt auf dich auf. Ein Stückchen dieses Kinderglaubens brauchen wir. Das Wort hat auch seine emotionale Qualität.
Und wenn das Judentum so lange Bestand hat, ohne dass es im Grunde genommen das selbst vollbracht hat, da muss etwas sein, dass es sozusagen immer wieder einen Neubeginn gab, warum soll das nicht auch in irgendeiner Form das ewige Leben der Seele zusammenkommen und man auf irgendeiner ehrenhaften Weise – also, ehrlich gesagt, das Schöne ist: Wir denken als Juden so viel darüber gar nicht nach. Wir machen uns nicht so viele Gedanken darüber. Das Entscheidende: Es gibt es. Und es heißt: Bereue deine Sünden eine Stunde, bevor du stirbst, und Gott wird dir verzeihen und dich liebend aufnehmen. Das ist die Hoffnung.
"Die einzig glaubwürdige Antwort: Verantwortung übernehmen"
Main: Nachdenken über unsere Sterblichkeit dazu hat uns auch in jüngster Zeit des Coronavirus massiv gezwungen. Zumindest gilt das wohl für die Nachdenklicheren im dieser Gesellschaft. Welchen Beitrag zur Reflexion dieser Corona-Krise und der damit verbundenen Sterblichkeit haben jüdische Gemeinden oder jüdische Denkerinnen und Denker geleistet?
Ginzel: Ich glaube, auch hier wieder durch das Tun. Im Tun, indem man überlegt hat, was können wir tun? Erstens: sich selbst schützen. Das hat zum Beispiel innerjüdisch, mit Ausnahme jetzt von einigen Haredim und Chassiden, aber die natürlich aufgrund ihrer Feindlichkeit gegenüber der Moderne: kein Fernsehen, Radio, ohne Frauen-Stimmen, kein Internet. Die hatten gar keine andere Basis. Die können sich ein jüdisches Leben gar nicht anders vorstellen als in der Gemeinschaft.
Das ist für alle anderen - inklusive moderner Orthodoxie - natürlich völlig anders. Und so gesehen war es also möglich, einen Gottesdienst weiterzumachen zum Beispiel über Zoom. Aber noch entscheidender ist, was kann man machen? Wem geht es schlecht? Wie kann man helfen? Und dann tut man sich eben mit anderen zusammen. Das ist im Grunde genommen, wie ich finde, die einzig glaubwürdige Antwort: Verantwortung übernehmen für sich, indem ich mich schütze und darüber andere auch vor Unglück bewahre, das ich eventuell ungeschützt und infiziert über sie bringen würde. Und konkrete Hilfe: irgendwo schauen, wie kann ich mitmachen?
"Böse Menschen sind endlich"
Main: Es kommt aufs Tun an, auf Verantwortung haben sie eben gesagt, weniger auf die Theorie, auch jetzt in Pandemie-Zeiten. Dennoch: Welche Traditionen, welche Gedanken oder gar Gebete in Ihrer Religion haben Ihnen geholfen, diese Krise bis dato zu verkraften?
Ginzel: Die Erfahrung aus den Jahrtausenden von 80, 100 Generationen, dass das Böse und auch die bösen Menschen endlich sind, aber nicht die Geschichte der Menschheit und auch nicht unser Leiden, das dann auch beendet wird.
Das Problem ist, in der Vergangenheit hat sich eine richtige Theologie daraus entwickelt, schon zu biblischen Zeiten. Das Judentum hat bis in die Nazizeit hinein solche Schicksalsschläge wie Epidemien als Prüfung empfunden, als Prüfung von Abraham, als Prüfung von Noah. Also haben wir nur eine einzige Möglichkeit: Wir bleiben jüdisch. Wir bleiben dem Bund treu und hoffen, dass der liebe Gott irgendwie irgendwann es schon richten wird.
"Wir lassen Gott nicht aus der Verantwortung"
Main: Aber finden Sie nicht das Stichwort Prüfung theologisch auch ein wenig problematisch, weil es impliziert ja, dass es derjenige oder dasjenige, was Sie als Gott bezeichnen, ist, das Sie prüfen will. Dann kommt ja genau die Pandemie oder anderer Schrecken von Gott. Ist die Pandemie eine Prüfung, die Gott Ihnen geschickt hat?
Ginzel: Also aus meiner Sicht wäre eine solche Darstellung Gotteslästerung. Es kann nicht sein. Selbst die Passivität Gottes bringt mich an den Rand dessen, dass ich mir sage, es ist trotz und alledem der liebende Gott. Es ist der Aufstand der jüdischen Bundeskinder, die sagen: Wir lassen dich nicht aus der Verantwortung.
Wir halten seit 3000 Jahren - oftmals mehr schlecht als recht - den Bund. Wir sind immer noch da. Wir lassen dich nicht aus der Verantwortung. Wir bleiben dem Bund treu und hoffen, dass du das irgendwann einmal mit der Erlösung - und dann nicht nur für Israel, sondern für diese Welt, die es dringend nötig hat - beantworten wirst.
Was ist das Judentum?
Main: Günther Bernd Ginzel, wir haben viel über Religion gesprochen. Auch auf die Gefahr hin, dass wir uns auf der Suche nach jüdischer Identität im Kreis drehen. Ich frage Sie jetzt noch mal: Was ist das Judentum, eine Religion, eine Kultur, ein Volk?
Ginzel: Es ist alles. Es ist eine Geschichte. Es ist ein Religions-Volk. Es ist ein israelisches Volk. Es ist mit Sicherheit der Glaube in seiner ganz tradierten Form. Es ist die Schicksalsgemeinschaft. Auch das hält viele Menschen beim Judentum, dass wenn die Menschen das alles erlitten haben, dann gehe ich nicht von der Fahne.
Main: Würde eines dieser Elemente dauerhaft überstrapaziert, was passiert dann?
Ginzel: Da passiert nicht viel, weil wir sind unterschiedlich. Wir setzen unterschiedliche Schwerpunkte. Und die Chance, dass mal eine Gruppe das Eine oder Andere überstrapaziert, ist gegeben. So ist das. Darüber müssen wir nachdenken und gegebenenfalls uns gepflegt streiten.
"Dann würde sich das Judentum auflösen"
Main: Wenn das Religiöse am Judentum sich exklusiv durchsetzen würde und niemand mehr vom jüdischen Volk oder der Geschichte redete, was würde dann aus diesem Judentum?
Ginzel: Das würde sich auflösen.
Main: Wenn das Ethnische oder Kulturelle am Judentum sich durchsetzen würde und niemand mehr von jüdischer Religion reden würde - also umgekehrt - was würde dann aus diesem Judentum?
Ginzel: Dann wird es diese Ethik nicht geben. Das ethische Handeln - also zumindest für Juden. Das heißt, es bedingt einander. Es kommt aus den religiösen Überzeugungen. Es kommt aus dem Lernen über das, was Judentum im Laufe der Jahrtausende bedeutet hat, auch mit vielen ganz spannenden Assimilationen. Das ist eine Einheit, und die Schwerpunkte werden sich verschieben. Aber das Eine gibt es nicht ohne das Andere.
Main: Günther Bernd Ginzel war das, Publizist in Köln mit einer Suche nach dem, was wir vielleicht als jüdische Identität bezeichnen könnten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.