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Puccinis Turandot
Menschenmassen als kreidebleiche Kollektive

In Nikolaus Lehnhoffs Inszenierung der "Turandot" an der Mailänder Scala sei vor allem die Angst allgegenwärtig. Sie stecke dem Chor in den Knochen. Denn Riccardo Chailly reize die monumentalen Chorszenen in ihren dynamischen Spitzen bis in äußerste Extreme aus, meint unsere Kritikerin Kirsten Liese.

Von Kirsten Liese | 03.05.2015
    Die Innenansicht des Theater der Scala in Mailand.
    Die Innenansicht des Theater der Scala in Mailand. (picture-alliance / epa/Ufficio Stampa Teatro Alla Scala)
    Die gewaltige Palastmauer schimmert rot wie Blut; in den ausgestreckten Armen der Schaulustigen blitzen Messer. Das Schreckensregime der chinesischen Prinzessin vermittelt sich in der Mailänder "Turandot" nicht über abgeschlagene Köpfe auf Pfählen, sondern vielmehr über eine kafkaeske, surreale Bildlichkeit. Die Männer, die ihr Leben lassen mussten, weil sie Turandots Rätsel nicht lösen konnten, erscheinen als bizarre Traumgestalten mit schwarzen Zylinderhüten und verstümmelten Armen.
    Und so wie Puccini die Psychologie der geheimnisvollen Turandot beschäftigte, rückt Nikolaus Lehnhoff ihre Konfrontationen mit dem Prinzen Calaf konsequent ins Zentrum seiner Inszenierung.
    Imposante Bühnenarchitektur
    Lehnhoff geht es in der Begegnung zwischen Turandot und Calaf nicht nur um eine gefährliche, rätselhafte Prüfung, sondern um einen Kampf der Geschlechter um Nähe und Distanz. Anfangs hat Turandot die Oberhand, demonstrativ schirmt sie ihren Körper mit einem stählernen Keuschheitsgürtel ab. Nach bestandener Prüfung aber durchbricht Calaf ihre Schutzzone. Die imposante Bühnenarchitektur von Raimund Bauer und die von Andrea Schmidt-Futterer entworfenen prächtigen Kostüme machen die Produktion aber auch in optischer Hinsicht zu einem Ereignis.
    Dank vieler Schauwerte wird der Abend trotz einer gewissen Statik in der Inszenierung nie lang. Die sparsame Personenregie macht allerdings auch Sinn. Allgegenwärtig ist die Angst. Sie steckt vor allem dem Chor in den Knochen. Lehnhoff arrangiert die Menschenmassen als kreidebleiche Kollektive in Schockstarre. Auf einem Hubpodium fahren sie aus den Tiefen der Unterbühne in die Szene herauf und verschwinden ebenso gespenstisch wieder in der Versenkung.
    Riccardo Chailly reizt die monumentalen Chorszenen in ihren dynamischen Spitzen bis in äußerste Extreme aus. Er fokussiert damit vor allem auf die brutalen Facetten der Oper.
    Damit folgt er als neuer musikalischer Leiter des Orchesters der Mailänder Scala seinem Vorgänger Daniel Barenboim, der ebenfalls in seinem Element ist, wenn es laut wird. Nur verstand sich Barenboim etwa in seiner grandiosen Interpretation des Verdi-Requiems mit dem Mailänder Opernorchester auch auf atemberaubend subtile, nuancierte Pianotöne. An diese Dimensionen reicht Chailly in seiner "Turandot" nicht heran.
    Allerdings stand dem Dirigenten auch keine erstklassige Liù vom Format einer Renata Tebaldi zur Seite. Die selbstlose Sklavin ist die lyrischste Figur in dem Stück. Sie will in Liebe für Calaf sterben, damit er mit Turandot glücklich werden kann. Die Sopranistin Maria Agresta singt sie weitgehend kultiviert, in der Höhe bisweilen mit einem etwas dicklichen Vibrato, jedoch nicht zärtlich genug. Was das Premierenpublikum dazu bewog, sie mit dem größten Beifall zu feiern, bleibt sein Geheimnis, zum Weinen brachte einen diese Stimme jedenfalls nicht.
    Dagegen gelang der Schwedin Nina Stemme in der Titelpartie ein allemal achtbares Rollendebüt. Ihre Stimme besitzt die erforderliche Größe, Strahlkraft und Wucht dieser hochdramatischen Partie. Nur die Stimmführung wirkt noch nicht perfekt, angelegentlich flackert es in der Höhe.
    Mit dem unvollendeten Schluss der Oper wollten sich Riccardo Chailly und Nikolaus Lehnhoff nicht zufriedengeben. Das von ihnen bevorzugte Finale von Luciano Berio mit einem erweiterten Schlussduett wirkt allerdings auch nicht ideal. Es bildet keine organische Einheit und löst nicht das Hauptproblem: die allzu plötzliche, unmotivierte Verwandlung einer eisigen Frau in eine Liebende mit einem menschlichen Herzen.