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Pulsierende Körper und charismatische Tänzer

Vor rund 50 Jahren begann der Bildhauer John Chamberlain, mit Material von Schrottplätzen zu arbeiten. Der inzwischen 84-jährige Amerikaner will noch einmal "back to the roots" - doch das ist nicht so ganz einfach.

Von Christian Gampert | 11.07.2011
    Sie tragen so seltsame Namen wie "Dogeyematador" oder "Constantpunchline", sie stehen beiläufig in den großen Gängen die "Pinakothek der Moderne" und schauen uns fragend an: Berge aus geknautschem Autoschrott, von dem amerikanischen Bildhauer John Chamberlain in ungeheuer dynamische Formen gebracht ... Vor rund 50 Jahren begann Chamberlain, mit Material von Schrottplätzen zu arbeiten; er konnte pressen, er konnte schweißen, und er formte aus diesen Müll-Resten, in denen ja auch die ganze Gewalttätigkeit des Autoverkehrs, der Zivilisation steckt, etwas ganz Neues, Abstraktes.

    Diese Chamberlain-Wesen wirkten bisweilen so, als habe sich ein wild-expressives, ein gestisches Gemälde von Willem de Kooning ins Dreidimensionale aufgewölbt – voller Energie, ein Aufbruch. Aber als die Kuratorin Corinna Thierolf den Künstler jetzt in seinem Atelier besuchte, um seine neuen Arbeiten zu sehen, hatte sie einen ganz anderen Eindruck:

    "Ich stand im Halbdunkel des Ateliers, kam also gerade an und hatte noch keinen Menschen gesehen – und da stand zwischen dem Material, das Chamberlain zum Arbeiten benutzt, plötzlich diese Skulptur, die da herausragt wie ein besonders geformtes Gestein. Ich nähere mich ihr, dieser dramatischen, fast zum Umfallen neigenden Gestalt – und ich dachte auf einmal: Das ist der Tod. Also das hat mich wirklich ergriffen."

    Der jetzt 84-jährige Chamberlain will noch einmal "back to the roots", und das ist nicht so ganz einfach. Der Autoschrott, das sei sein Carrara, hat er einmal gesagt – und in der Tat kann man die Verwerfungen und Fältelungen seiner Kotflügel und Chassis-Teile mit dem Mantelwurf einer Renaissance-Madonna vergleichen; wo der religiöse Künstler mit wertvollen Stoffen Anschluss an höhere Sphären suchte, arbeitet Chamberlain mit sehr gegenwärtigem Material. Allerdings sind die schönen, luxuriösen 50-Jahre-Straßenkreuzer, deren Überbleibsel er für sein Frühwerk benutzte, heute kaum noch zu bekommen – er muss sie ersteigern. Denn er braucht deren großzügiges Blech, die Anmutung von Schnelligkeit und Eleganz – heutige mittelklassige Nutzfahrzeuge mit ihrer kunststoffversetzten Membran sind ihm ein Gräuel.

    Trotz aller Massigkeit haben diese Schrottskulpturen auch etwas Leichtes und Graziles, etwas Verspieltes und Verrücktes, sogar Komisches. Man kann sich in den verchromten Stoßstangen spiegeln, und wer die dynamische Kraft dieser fast menschlich wirkenden Ungetüme auf sich einströmen lässt, der hört vielleicht sogar Musik ...

    "Und dann wirken diese Chromstangen so wie Pulsadern oder rhythmische Hauptlinien, die durch die Skulpturen führen, aber sie werden auch zuweilen benutzt, um so eine Beweglichkeit dieser eigentlich zum Stillstand gekommenen Materie anzudeuten ..."

    In den 50er-Jahren, im "Black Mountain College", probten sie den Crossover zwischen den Disziplinen. Chamberlain zum Beispiel ist beeinflusst von den Rhythmen seines Freundes, des Dichters Charles Olson, aber auch vom Jazz des Thelonious Monk, den er im Atelier ständig hört, bis heute. Das sieht man seinem Spätwerk auch an: Manche der Skulpturen scheinen zu tanzen, sie stehen auf kleinen, oft chromblitzenden Füßchen oder strecken ausladend ihre Extremitäten aus einem massiven Körper heraus.

    Die Kuratorin Corinna Thierolf setzt Chamberlains Arbeiten in München in Bezug zu seinen Zeitgenossen, den strengen amerikanischen Minimalisten, und das wirkt manchmal, als würden lauter Asketen auf einen barocken Kraftprotz treffen: hier die fast im Raum verschwindenden, klösterlichen Mikado-Fäden des Fred Sandback und die schmalen Leuchtskulpturen von Dan Flavin, dort die Opulenz geknautschter Autoteile. John Chamberlain, das ist auch im Alter ein kräftiges Statement: Er zeigt uns die Power, aber auch die schrottige Schattenseite des amerikanischen Traums.

    Die Pinakothek der Moderne in München