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Punkt, Punkt, Komma, Strich

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beriefen sich die "Neo-Impressionisten" auf eine wissenschaftlich fundierte Theorie der Farbe und setzten sich ab vom diffusen Farbenspiel der Impressionisten. Seurats "Seine bei Courbevoie" oder Signacs Hafenansicht von St. Tropez sind jetzt in einer Ausstellung des Pariser Musée d’Orsay zu sehen, die den Neo-Impressionisten gewidmet ist und den Künstlern, die sie beeinflusst haben.

Von Björn Stüben |
    Was passiert, wenn eng nebeneinander gesetzte Pinselstriche mit reinen Grundfarben aus einer gewissen Distanz betrachtet werden? Das menschliche Auge verschmilzt sie zu einem einzigen farblichen Eindruck. Dieser optischen Mischung sind die Wissenschaftler um 1880 auf die Spur gekommen. Die französischen Künstler Georges Seurat und Paul Signac waren fasziniert. Dem diffusen und eher zufälligen Farbenspiel der Impressionisten konnten sie jetzt eine Malerei entgegensetzen, die sich auf eine wissenschaftlich fundierte Theorie berufen konnte. Im Zentrum dieser Theorie stand die Farbe. Das interessierte auch andere Kollegen und natürlich die Kunstkritik, die die Geburt des "Neo-Impressionismus" verkündete. Die gesamte Garde der im Kielwasser von Seurat und Signac schwimmenden Neo-Impressionisten zeigt jetzt das Musée d’Orsay in Paris. Marina Ferretti, die die umfangreiche Schau zusammengestellt hat, über die neue Malweise und ihre Anhänger:

    " Die meisten jungen Künstler durchlebten eine Phase des Neo-Impressionismus. Sie interessierten sich für die Theorie der reinen Farben. Später aber konnten sie dann völlig unterschiedlichen künstlerischen Strömungen folgen. Das schockierte Signac vor allem im Falle von Henri Matisse. 1904, kurz vor der Geburt des Fauvismus, arbeitete Matisse in Saint Tropez mit Signac zusammen. Auch er grenzte in seinen Werken die Farben klar voneinander ab und malte Farbpunkte. Doch bald gab Matisse den kleinteiligen Farbenauftrag zugunsten ausgedehnter Flächen mit reinen und kräftigen Farben auf. Signac musste erkennen, dass sich jetzt einer der brillantesten Anhänger seiner Bewegung von ihm abgewendet hatte. "

    Die Pariser Schau ist in ihren Exponaten dort aufregend, wo sie unter der Überschrift "Explosion" diejenigen Künstler auftreten lässt, die die formalen Fesseln des Neo-Impressionismus zu sprengen beginnen wie Matisse und Derain 1905 mit ihren Farborgien aus Collioure. Aber auch die Deutschen Karl Schmitt-Rottluff oder Emil Nolde, die schon früh vom Neo-Impressionismus im Nachbarland infiziert worden waren, lassen ihn um 1906 allmählich hinter sich und steuern zielstrebig auf den Expressionismus zu. Geradezu altmeisterlich wirken viele andere der Exponate von Künstlern wie Edmond Cross, Charles Angrand, Henry van de Velde oder auch Camille Pissarro, denn sie setzen Portraits, Interieurs oder Landschaften ins Bild, die lediglich durch die Brille des Neo-Impressionismus betrachtet, ansonsten aber sehr konventionell komponiert wurden. In der Häufung wirken diese Werke leider recht monoton.

    " Die Neo-Impressionisten finden zu sorgsam arrangierten Bildthemen zurück wie auch zur Darstellung der menschlichen Figur. Seurat war es, der sich wieder für eine traditionelle Bildkomposition einsetzte. Alles drehte sich erneut um Entwurf, Vorstudie des Ganzen und Zeichnung. Dies fand im Atelier statt. Dadurch wollten sich die Neoimpressionisten von ihren Vorgängern, den Impressionisten abgrenzen, die ja ganz anders bei ihrer Malerei vorgingen, denn sie arbeiteten im Freien und direkt vor dem Motiv, ohne erste Entwürfe oder Studien zu machen. "

    Die Abgrenzung der Neo-Impressionisten zu ihren künstlerischen Vorläufern ist nicht zu übersehen. Sie bringen formale Ordnung in die lediglich vom schnellen optischen Eindruck diktierte Malweise der Impressionisten. Auch ein anderer Zeitgenosse liebäugelte mit der neuen Kunst und ihrer Theorie von der deutlichen Unterscheidung einzelner Farben auf der Leinwand. Er ist mit einem Selbstportrait aus dem Jahre 1887 vertreten - Vincent van Gogh.

    " Van Gogh hat gemeinsam mit Signac gearbeitet und beide verband die große Bewunderung für Seurat. Van Gogh beschreibt ihn in seinen Briefen als den Kopf der damaligen Künstleravantgarde in Paris. Auch van Gogh fügte auf einigen seiner Bilder die Farben in kleinen Punkten aneinander, daher kommt ja der Begriff des Pointillismus. Aber er malte nicht nur diese Farbpunkte, sondern auch kleine Quadrate oder einfach Striche. Es ging ihm und den Neo-Impressionisten um die klare Unterscheidung der reinen Farbwerte. Vereinfachend nur von den Pointillisten zu sprechen, das hörte damals kein Künstler gerne. "
    Vermutlich genauso wenig würden es Paul Klee, Kasimir Malewitsch oder Piet Mondrian begrüßen, wenn sie ihre Werke in einer dem Neoimpressionismus gewidmeten Ausstellung wieder finden würden, schließlich waren sie eher in der Abstraktion zu Hause. Tatsächlich aber beschließen sie die Schau im Musée d’Orsay.
    Mondrian hat sich im Anblick einer Düne, Malewitsch bei der Aussicht auf eine Landschaft um 1909 im Auftragen von Farbtupfen geübt, was jedoch ein kurzes Intermezzo in ihren Werken bleiben wird. Und Klees Küstenlinie von 1931 spiegelt nur noch den ganz späten Reflex einer neo-impressionistischen Malweise. Den vielen Ausstellungen zum Neo-Impressionismus hat das Pariser Musée d’Orsay eine weitere hinzugefügt. Der Unterschied zu den vorangegangenen Schauen? Das Musée d’Orsay lässt den noch vor dem ersten Weltkrieg zu Grabe getragene Neo-Impressionismus tatsächlich bis 1931 triumphieren, als sich Paul Klee noch einmal spät seiner erinnerte. Ob vielleicht auch irgendwann die Siebdrucke Roy Lichtensteins in einer Neo-Impressionismus-Ausstellung zu sehen sein werden?